Lernort und Lebensraum: Christine Kamer
Ein Vorteil der Ganztagsschule: Die Lehrkräfte lernen die Kinder besser kennen, beispielsweise in Spiel- und Gruppensituationen

Lernort und Lebensraum

Eine Pflicht gibt es erst ab dem Schuljahr 2026, die Vogelstangschule in Mannheim hat aber bereits viele Jahre Erfahrung mit der Ganztagsschule für Grundschüler und Grundschülerinnen. Das Beispiel zeigt, wie die Umstellung gut gelingen kann.

  • Die Vogelstangschule ist seit 2011 verbindliche Ganztagsschule
  • Teams mit Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern für jede Klassenstufe
  • Mentale Förderung und Bewegungsmöglichkeiten wechseln sich ab
AUTORIN Angela Krüger, Redakteurin Universum Verlag | DATUM: 01.02.23 | FOTOS Dominik Buschardt

Die Vogelstangschule in Mannheim ist seit 2011 eine verbindliche Ganztagsschule. Obwohl Martina Schmidt erst 2014 als Schulleiterin startete, erinnert sie sich noch gut an die anfänglichen Hürden, denn auch drei Jahre nach der Umstellung auf Ganztagsschule lief noch nicht alles glatt. Daraus hat sie gelernt und meint: „Es ist extrem wichtig, einen offenen und ehrlichen Austausch sowie demokratische Prozesse zu implementieren.“

Das findet auch Christine Kamer, Klassenlehrerin der 4c. Sie ist seit 18 Jahren an der Vogelstangschule und kann sich noch gut an die Konferenz erinnern, in der es um die Umstellung auf und die Beschlussfassung für die verbindliche Ganztagsschule ging: „Wir brauchten von Anfang an ein gutes Miteinander, auch mit den Eltern.“ Die Herausforderung war damals, dass sich die Eltern mit den Lehrern und Lehrerinnen einig sein mussten, das Modell Ganztagsschule überhaupt anzunehmen. „Es war eben alles sehr neu und ungewohnt.“ Christine Kamer war von Anfang an eine Befürworterin der Ganztagsschule, denn für sie liegen die Vorteile auf der Hand: Die Lehrkräfte lernen die Kinder besser kennen, sehen sie viel in Spiel- und Gruppensituationen. „Das ist für mich die Basis produktiven Lehrens.“ Hinzu kommt, dass viele Eltern in diesem Stadtteil einen großen Bedarf an einer ganztägigen Betreuung haben.

Heute werden 430 Kinder an vier Tagen in der Woche von 8 bis 16 Uhr betreut. Vier Stunden Unterricht am Vormittag, eine Stunde eigenständiges Lernen, zwei große Bewegungspausen mittendrin. Freitags ist nur am Vormittag Unterricht. Für die Kinder ist die Schule ein Haus des Lebens und des Lernens. „Mir gefällt, dass man hier essen kann“, sagt der neunjährige Gabriel aus der 4c. „Dadurch, dass wir nachmittags Unterricht haben, brauchen wir keine Hausaufgaben mehr zu machen. Das finde ich auch toll.“ Shirley, zehn Jahre alt, ergänzt: „Ich mag es, dass wir so viele Pausen haben, um mit unseren Freunden zu spielen.“

LERNEN UND ENTSPANNEN

Im Klassenraum der 4c sollen die Schüler und Schülerinnen in Gruppenarbeiten andere Wörter für „fragen“ finden. In einer Gruppe sitzt Tim Eisen, Bezugserzieher der Klasse. Er ist ständiger Ansprechpartner, kennt die Stärken und Schwächen der Kinder. „Wie kann man noch fragen? Habt ihr eine Idee?“, wiederholt er den Arbeitsauftrag, damit die Gruppe weiter an der Aufgabe arbeitet. Neben ihm sind 16 andere Erzieherinnen und Erzieher fester Bestandteil des Schulteams – immer mit dem Ziel, dass sich die Schülerinnen und Schüler wohlfühlen beim Lernen.

Dafür machen die Erzieherinnen und Erzieher während der großen Pausen viele Bewegungsangebote, damit die Schülerinnen und Schüler den Kopf wieder freibekommen – zum Beispiel Ball- und Laufspiele, Seilspringen, Frühsport und Balancieren. Hinzu kommen in der Mittagspause Angebote wie kreatives Gestalten, Yoga, Tanzen und Musik. „So funktioniert die Balance zwischen mental fordernden Unterrichtsstunden, Bewegungs- und Entspannungsmöglichkeiten“, findet Helen Elias, Bezugserzieherin der Klasse 4a und Teamleiterin des Erzieherteams. Mittwochnachmittags gibt es zudem AGs. „Ich bin in der Foto-AG, die ist cool. Ich kann Tiere fotografieren und Gegenstände“, sagt Shirley. „Ich liebe es zu tanzen und bin in der AG Street Dance“, erzählt Gabriel begeistert.

NICHT ALLES IST PERFEKT

Damit die Balance zwischen Lernen und Entspannen in der Vogelstangschule so gut funktioniert, gibt es eine angemessene Infrastruktur – ein großes, lichtdurchflutetes Haus, eine Mensa, eine Pausenhalle, verschiedene Freizeiträume, ein schöner Sozialraum und ein Konferenzraum für Dienstbesprechungen. „Es wurden viele Voraussetzungen erfüllt, die man so braucht für den Ganztag.“ Aber auch an dieser Schule ist nicht alles perfekt. „Unsere Mittagspause dauert eineinhalb Stunden, weil die Kinder in drei Schichten essen müssen“, erklärt die Schulleiterin. Die Mensa sei zu klein. „Im Prinzip würde ich mir eine doppelt so große Mensa wünschen. So hätten wir die Möglichkeit, die Mittagspause zu verkürzen und stattdessen weitere pädagogische Angebote zu machen.“

Auch gebe es nicht genug Ruhebereiche für die Kinder, führt Martina Schmidt weiter aus: „Es gibt eine Handvoll Kinder, denen ist es ganztags zu anstrengend, sie bräuchten auch mal einen Rückzugsort.“ Den bräuchten auch die Lehrerinnen und Lehrer an Tagen, an denen sie ganztags eingeteilt sind. In der Mittagspause haben die Lehrkräfte offiziell keinen Dienst. Viele würden die Zeit gern nutzen, um Unterricht vorzubereiten, damit dies nicht in den Abendstunden zu Hause erledigt werden muss. „Es ist aber nicht vorgesehen, dass Lehrkräfte an Ganztagsschulen eigene Arbeitsräume oder Arbeitsplätze haben“, weiß die Schulleiterin. Das hat zur Folge, dass sich die Lehrkräfte jedes Mal aufs Neue einen Platz suchen müssen, um den Unterricht vorzubereiten. Das gestaltet sich bei der hohen Lautstärke in der Mittagszeit nicht immer einfach. „Schallisolierte Räume wären fantastisch“, so der Wunsch von Martina Schmidt. „Aber es gibt einfach Rahmenbedingungen, an denen kann man nichts ändern“, resümiert sie.

PROBLEME GEMEINSAM LÖSEN

Die Abläufe in der Schule funktionieren gut. Dafür gibt es für jede Klassenstufe ein Stufenteam, das aus Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern besteht. Es hat feste Zeiten, in denen es sich zum Austausch trifft. Die Schulleitung hat mehrere Jours fixes im Wochenverlauf mit den unterschiedlichen Gruppen. Aus den Stufenteams setzt sich wiederum eine Steuerungsgruppe zusammen. Deren Aufgabe ist Schulentwicklung. „Dazu gehört auch, dass man zuerst auf den Status quo schaut, diesen analysiert, um sich dann weiterentwickeln zu können“, sagt Schulleiterin Martina Schmidt. Im Steuerungsteam, das aus sieben Personen besteht, werden daher auch aktuelle Themen besprochen und Lösungen erarbeitet. Ein Krisenteam – zu dem auch zwei Sicherheitsbeauftragte aus der Lehrerschaft gehören – bearbeitet ganz konkrete Probleme. „Diese Teamstruktur dient dazu, basisdemokratisch mit den Dingen umzugehen“, sagt Martina Schmidt.

Auf diese Weise wird versucht, die Arbeitszufriedenheit der Lehrer und Lehrerinnen zu erhöhen und die Arbeitsbelastung zu reduzieren. „Wir gehen sogar so weit, dass die Teams ihre Stundenpläne mitgestalten“, sagt Martina Schmidt. So schaffen sie es, eine gute Situation für alle zu schaffen. Zusätzlich fanden Fortbildungen statt, es waren bereits eine Schulpsychologin sowie ein Fachberater und eine Fachberaterin für Schulentwicklung im Haus, und es gab einen Gesundheitszirkel vom Schulamt in der Schule. „Aber was uns im Alltag am effizientesten hilft, ist tatsächlich die Steuerungsgruppenarbeit.“

Lernort und Lebensraum: Helen Elias und Martina SchmidtIm siebenköpfigen Steuerungsteam finden Schulleiterin Martina Schmidt (rechts) und Helen Elias, Teamleiterin der Erzieherinnen und Erzieher, gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen im Ganztag.

ALLE MÜSSEN ES WOLLEN

Auf die Frage, was Schulen bei der Umstellung auf eine Ganztagsschule beachten sollen, muss die Schulleiterin nicht lange überlegen. „Sich als Team frühzeitig auf den Weg machen, gemeinsam verschiedene Ganztagsschulen besichtigen und schauen, wie andere Schulen etwas umsetzen.“ Nur so könne sich im Kollegium eine gemeinsame Haltung entwickeln. Daraus folgen Überlegungen, warum es für die Schülerinnen und Schüler der eigenen Schule gut sein könnte, eine Ganztagsschule zu besuchen. „So kommt man in den Prozess, gemeinsam ein Konzept zu entwickeln.“

Das Wichtigste sei jedoch: Alle Beteiligten müssen es wollen. „Wer sich dagegen sträubt, nachmittags zu arbeiten, wird nicht glücklich damit“, so Schmidt. Zu Beginn war es deshalb auch so, dass einige Lehrerinnen die Schule wechselten. Sie wollten ihre eigenen Kinder zu Hause betreuen. „Wenn die Ganztagsschule Regel wird, wird es für diese Lehrkräfte einfacher, weil ihre Kinder auch ganztags in Betreuung sind.“ Für die Vogelstangschule ist das Model Ganztagsschule zu einem vollen Erfolg geworden – durch durchdachte Teamstrukturen, ein multiprofessionelles Team und die Möglichkeit der Mitentscheidung.

Schulleiterin Martina Schmidt spricht im Interview über die Umstellung der Vogelstangschule auf eine Ganztagsschule.