Die Kinder nie aufgeben: Maike Machleidt
Wie eine Hamburger Schule sich dem Problem Schulabsentismus gestellt hat – mit Erfolg und Wohlfühlfaktor

“Die Kinder nie aufgeben!”

Genau hinschauen, sofort handeln – und vor allem: wohlfühlen in der Schule. Die Stadtteilschule Altrahlstedt in Hamburg hat sich auf den Weg gemacht, Schulabsentismus in den Griff zu bekommen. Mit Erfolg.

  • Nicht warten, sondern direkt aktiv werden
  • Festgelegte Handlungsschritte entlasten die Lehrkräfte
  • Wer sich in der Schule wohlfühlt, fehlt selten
AUTORIN Kathrin Hedtke, freie Journalistin | DATUM: 01.02.23 | FOTOS Anya Zuchold | ILLUSTRATIONEN Adobe Stock, mann + maus

Immer wieder hat Mia (Name von Redaktion geändert) aus der Mittelstufe im Unterricht gefehlt. Sie tat sich schwer damit, morgens aufzustehen, fühlte sich unwohl, blieb im Bett und verlor den Spaß an der Schule. Wie geht man am besten mit fehlenden Schülern und Schülerinnen wie Mia um? Das fragte sich auch die Stadtteilschule Altrahlstedt, die sich daraufhin aktiv dem Problem Schulabsentismus entgegenstellte.

Die Kinder nie aufgeben: Sylke Gatzki„Früher haben wir Schülerinnen und Schülern, die nicht da waren, viel weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Jetzt sind sie genauso im Fokus wie alle anderen. Wenn jemand fehlt, gibt es einen genauen Fahrplan, wie damit umzugehen ist.“ – SYLKE GATZKI, ABTEILUNGSLEITERIN MITTELSTUFE

 

Die Schule macht bei dem Projekt „Jeder Schultag zählt – Strategien gegen Scheitern“ der Joachim Herz Stiftung und der Alfred Toepfer Stiftung mit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Oldenburg unterstützen vier Schulen in Hamburg dabei, wirksame Konzepte gegen Schulabsentismus zu entwickeln. „Früher haben wir Schülerinnen und Schülern, die nicht da waren, viel weniger Aufmerksamkeit gewidmet“, sagt Sylke Gatzki, Abteilungsleiterin der Mittelstufe. „Jetzt sind sie genauso im Fokus wie alle anderen.“ „Wenn jemand fehlt, gibt es einen genauen Fahrplan, wie damit umzugehen ist“, sagt Maike Machleidt, die Klassenlehrerin von Mia. So werden jetzt in der Schule alle Fehlzeiten systematisch erfasst und die Eltern sofort informiert. Außerdem wird genau hingeschaut, warum die Schülerinnen und Schüler fehlen. Haben sie Angst vor der Schule? Leiden sie unter psychischen Problemen? Oder sind vielleicht sogar die Eltern schuld? Im Fall von Mia stellte ein Arzt fest, dass Depressionen dahinterstecken. Die Schülerin macht jetzt eine Therapie. „Und sie ist tatsächlich jeden Tag in der Schule“, so Maike Machleidt. „Das freut mich total.“

KLARE REGELN FÜR DEN ERNSTFALL

Die Kinder nie aufgeben: Maike Machleidt“Wir wollen es den Schülerinnen und Schülern so schwer wie möglich machen, in der Schule zu fehlen. Dass ich von vielen in meiner Klasse ab dem ersten Fehltag ein Attest verlange, hat enorm viel bewirkt.“ – MAIKE MACHLEIDT, KLASSENLEHRERIN

 

 

Nach dem Gong wartet Sozialpädagogin Shaha Maliqi vom Beratungsteam morgens noch eine Viertelstunde, bevor sie ihre Runde durch die Klassenzimmer dreht. Von jeder Lehrkraft sammelt sie einen Zettel ein, wer in der Klasse fehlt. Von ihrem Büro aus ruft sie dann direkt die Eltern an. „Viele sind dankbar“, berichtet die Schulsozialarbeiterin. „Sie sind teilweise schon auf der Arbeit und wissen gar nicht, dass ihr Kind noch im Bett liegt oder nicht in die Schule gegangen ist.“ Das Konzept sieht vor, dass ab dem dritten Fehltag in einem Monat ein Hausbesuch stattfindet. Wichtig sei, erst einmal herauszufinden, warum ein Kind oft in der Schule fehlt, betont Shaha Maliqi. Im Ernstfall leitet die Schule ein Absentismusverfahren ein. Dabei ist genau festgelegt, welche Handlungen folgen und welche Hilfen von außen hinzuzuziehen sind: regionales Bildungs- und Beratungszentrum, Jugendamt, gegebenenfalls die Schulärztin oder sogar die Polizei.

„Das ist eine totale Entlastung“, berichtet Lehrerin Maike Machleidt. Früher sei sie oft unsicher gewesen: Wie damit umgehen, wenn eine Schülerin oder ein Schüler ständig in ihrer Stunde fehlte? „Mir war klar, dass ich mich irgendwie darum kümmern musste“, sagt die Lehrerin. „Aber ich habe ja schon gut mit meinem Kerngeschäft zu tun, die Klasse in Deutsch und Englisch zu unterrichten.“ Einmal erklärte ihr eine Mutter, die Tochter könne nicht zu Schule gehen, weil sie sich zu Hause um die Hundewelpen kümmern müsse.

Maike Machleidt wusste, dass hier etwas gewaltig schieflief, aber was sie genau tun sollte, wusste sie nicht. Jetzt habe sie das Thema viel besser im Blick und könne auf Unterstützung zählen.

Hinschauen und handeln

Wichtigste Regel: „Nicht warten, sondern bei ersten Anzeichen direkt aktiv werden – und dranbleiben“, rät Projektleiter Heinrich Ricking. Der Professor für Sonderpädagogik weiß nur zu gut, dass manche Jugendlichen monatelang fehlen, bevor überhaupt irgendetwas passiert. „Für die Schulbiografie ist das katastrophal“, sagt der Wissenschaftler. Studien zeigten, dass damit die Gefahr eines sogenannten Drop-outs einhergehe. Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss, finden keine Ausbildung, damit steigt das Risiko für Drogenkonsum und Kriminalität. „Sie gehen ins Nichts“, warnt Heinrich Ricking. „So weit darf es nicht kommen.“ Der erste Schritt: das Problem wahrnehmen, um überhaupt handeln zu können. In England sei es schon lange üblich, dass die Lehrkräfte jeden Morgen die Abwesenheiten digital eintragen, alle Daten zentral zusammenlaufen und die Eltern automatisch per SMS informiert werden.

Schätzungen zufolge fehlen in Deutschland fünf bis zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler regelmäßig im Unterricht. Die Gründe dafür sind vielfältig. Oft steckt dahinter Angst vor der Schule. Sensible Kinder empfänden mitunter die großen Klassen als bedrohlich, so der Wissenschaftler, und fürchteten sich davor, im Unterricht etwas sagen zu müssen. Hinzu komme die Sorge vor schlechten Noten und Zeugnissen oder auch konkrete Konflikte, Mobbing und Gewalt. Studien zufolge erlebe ein Viertel bis ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler regelmäßig intensive Ängste in der Schule.

„Was typischerweise als Schulschwänzen gilt, ist in der Regel einem Übermaß an negativen Schulerfahrungen geschuldet“, sagt der Erziehungswissenschaftler. Viele Kinder erlebten in der Schule großes Leid: Niederlagen, Konflikte und mangelnde Anerkennung führten dazu, dass die Lernfreude mit jedem Jahr abnehme. Konkret zeige sich das Problem meist erst ab der Mittelstufe. „Aber der Grundstein wird schon in der Grundschule gelegt“, berichtet Heinrich Ricking. Deshalb wäre es seiner Meinung nach sinnvoll, schon in frühen Jahren viel stärker auf Prävention zu setzen. Es gelte zu verhindern, dass die Schülerinnen und Schüler in den Teufelskreis gerieten. Das Projekt „Jeder Schultag zählt“ zielt darauf ab, das Schulklima grundlegend zu verbessern. „Was zunächst einmal wie Kuschelpädagogik klingt, ist ganz wichtig für die Prävention.“

WOHLFÜHLATMOSPHÄRE SCHAFFEN

Die Kinder nie aufgeben: Shaha Maliqi und Soraya AbdullahDie Sozialpädagogin Shaha Maliqi (links) ruft Eltern an, deren Kinder unentschuldigt fehlen. Ihre Kollegin Soraya Abdullah steht im Auszeitcafé für Gespräche mit den Jugendlichen bereit. „Das tut vielen sehr gut. Die Nachfrage ist groß.“

 

Auf den ersten Blick ist zu sehen, wie ernst es der Stadtteilschule Altrahlstedt damit ist: Im Eingangsbereich haben Jugendliche ein Graffiti mit einem lächelnden Delfin an die Wand gesprayt, sie haben im Schulhof neue Beete angelegt und Blumen gepflanzt. Ein Jahrgang verschönerte die Toiletten mit lila Kacheln und Schnörkelspiegeln, ein anderer richtete einen Aufenthaltsraum hübsch ein – mit Kissen, Kerzen und Kuscheltieren. „Schule soll Ort des Wohlfühlens sein“, sagt Sylke Gatzki. Auch die Kurse wurden umgekrempelt. Bei einer Befragung stellte sich heraus, dass Angebote wie Schülerzeitung oder kreatives Schreiben gar nicht so beliebt sind wie gedacht. Stattdessen gibt es jetzt Werken und Hauswirtschaftslehre. „Das ist viel angesagter.“

In allen Klassen steht soziales Lernen auf dem Stundenplan. Zwei Stunden pro Woche widmet sich die Klassenleitung gemeinsam mit einer sozialpädagogischen Fachkraft aus dem Beratungsteam auf altersgemäße Weise Themen wie Sucht oder Depressionen. Zudem fördern Programme wie Topfit oder Cool in School regelmäßig Entspannung und Gewaltprävention. Die Stadtteilschule hat auch neue Räume für Schülerinnen und Schüler geschaffen, die eine Auszeit brauchen. „So bleiben sie im System“, betont die Abteilungsleiterin. Im Auszeitcafé steht Sozialpädagogin Soraya Abdullah für Gespräche bereit. „Das tut vielen sehr gut“, sagt sie. „Die Nachfrage ist groß.“ Gerade wenn Jugendliche länger gefehlt hätten, falle ihnen die Rückkehr zur Schule mitunter schwer. „Hier können sie in Ruhe sitzen und brauchen nicht draußen im Regen oder im Einkaufszentrum herumzustehen.“ Viele hätten ein großes Bedürfnis, dass ihnen jemand zuhöre. „Sie freuen sich über Hilfe“, so Soraya Abdullah.

Wenn Schülerinnen und Schüler im Unterricht nicht mitkommen oder zu viel verpasst haben, können sie im Lerncafé mithilfe von Förderlehrkräften individuell den Stoff nachholen.

Die Coronapandemie habe sehr dazu beigetragen, dass Mädchen und Jungen mehr als üblich regelmäßig in der Schule fehlten, berichtet Maike Machleidt. „Das ist total eingerissen.“ Immer wieder bekam sie zu hören, irgendwer sei an Corona erkrankt oder müsse in Quarantäne. „Aber durch unsere engmaschigen und schnellen Kontrollen haben wir das gut in den Griff bekommen.“ Von vielen Jugendlichen in ihrer Klasse verlangt die Klassenlehrerin ab dem ersten Fehltag ein Attest. „Das hat enorm viel bewirkt.“ Schließlich sei es sehr unbequem, morgens zum Arzt zu müssen, statt einfach weiterzuschlafen. „Wir wollen es ihnen so schwer wie möglich machen, in der Schule zu fehlen“, betont die Lehrerin. Zumal einige Kinder wirklich krank oder vernachlässigt seien. „Da ist es gut, wenn ein Arzt sie im Blick hat.“

Mitunter kommt es auch vor, dass Eltern ihre Kinder von der Schule fernhalten. Ein Mädchen sollte nicht an der Klassenfahrt teilnehmen, weil sie die Mutter pflegen sollte. Ein andermal wurden Kinder zu Hause als Babysitter oder Dolmetscher benötigt. Der Erziehungswissenschaftler Heinrich Ricking sagt, dass solche Ursachen bislang zu wenig beachtet würden. Einige Eltern lehnten den Unterricht aus religiösen Gründen ab, andere nähmen die Schulpflicht in Deutschland nicht so ernst – oder hätten selbst früher schlechte Erfahrungen mit der Schule gemacht. „Manchmal wird so etwas über Generationen weitergegeben“, berichtet der Projektleiter. Im Einzelfall, zum Beispiel wenn eine Straftat vorliegt, kann es auch sinnvoll sein, die Polizei einzuschalten. Auf die Kinder selbst hätten Strafen wenig Effekt. „Schließlich ändert sich dadurch nichts an den eigentlichen Gründen.“ Wenn ein Jugendlicher unter Ängsten leidet oder sich ohnehin nicht an Regeln hält, sei ein Bußgeld wirkungslos.

KOOPERIEREN STATT KAPITULIEREN

An der Stadtteilschule Altrahlstedt ist deutlich zu spüren, dass sich der Einsatz lohnt. „In der Regel bekommen wir das Problem relativ schnell gelöst“, sagt die Abteilungsleiterin. Besonders groß ist der Erfolg bei Schülerinnen und Schülern, die schon ab der 5. Klasse an der Schule sind. Anders sieht es aus mit Jugendlichen, die erst zur 8. Klasse zugewiesen werden und teilweise vorher schon lange in ihrer alten Schule gefehlt haben. „Wenn sich das Fehlen erst verfestigt hat, kommen wir meist nicht mehr an sie ran“, sagt Sylke Gatzki. Auch der Projektleiter betont, dass Schulen in einigen Fällen an ihre Grenzen kämen, etwa bei starken psychischen Störungen, Drogenkonsum oder Kriminalität. „Das kann Schule nicht lösen.“ In solchen Situationen gilt es, den Kontakt zu anderen Stellen wie Jugendamt oder in seltenen Fällen zur Bewährungshilfe herzustellen. Dabei sei eine gute Kooperation wichtig. Vor allem zählt, so Heinrich Ricking: „Die Kinder nie aufgeben!“

Die Kinder nie aufgeben: Wohlfühlatmosphäre im Aufenthaltsraum des Projekts "Jeder Schultag zählt"Die Kinder nie aufgeben: Jugendliche im Aufenthaltsraum des Projekts "Jeder Schultag zählt"

Das Projekt „Jeder Schultag zählt“ will Schulabsentismus auch durch eine verbesserte Atmosphäre verhindern. In der Stadtteilschule Altrahlstedt hilft dabei die Möblierung der Aufenthaltsräume: Kissen, Kerzen, Kuscheltiere und ein Tischkicker machen es den Schülerinnen und Schülern leicht, sich wohlzufühlen.

Die Kinder nie aufgeben: Kinder spielen Tischkicker im Aufenthaltsraum

 

WAS GENAU IST SCHULABSENTISMUS?

Von Schulabsentismus ist die Rede, wenn Schülerinnen und Schüler trotz Anwesenheitspflicht wiederholt im Unterricht fehlen. Einige sprechen auch von Schwänzen oder Schulverweigerung. Doch damit wird grundsätzlich eine aktive Verweigerung unterstellt. Das wird dem Problem nicht gerecht. Denn es gibt viele Ursachen, warum Kinder dem Unterricht fernbleiben. Besser trifft es daher der Begriff Schulvermeidung. Allerdings ist dieser nicht klar definiert. Bei einigen Fachleuten fällt darunter bereits störendes Verhalten, andere setzen eine bestimmte Fehlzeit voraus. Schulabsentismus fasst wertfrei alle Formen von Schulversäumnissen zusammen.