AG gegen Rassismus
"Dieses Engagement ist mein Beitrag zu einer demokratischen Schulkultur." (Neziha Ciftci, Lehrerin)

„Diese AG schenkt mir Hoffnung und Mut“

Immer wieder montags, nach der achten Stunde. Alle zwei Wochen kommt die Rassismus-AG an der Europaschule Schulzentrum S II Utbremen in Bremen zusammen. In dem Unterrichtsraum ist „Kein Platz für Antisemitismus“, auch nicht für Rassismus und sexualisierte Gewalt, das stellen mehrere Poster an Rolltafeln klar. Weitere Plakate informieren über die Hintergründe der „Black Lives Matter“-Bewegung und rassistische Anschläge wie den in Rostock 1992. Daneben sind unter dem Claim „Kein Vergessen“ die Porträts der Opfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland seit 1945 abgebildet. „Wir versuchen, hier einen Rahmen für den Austausch zu all diesen Themen zu schaffen“, sagt Neziha Ciftci. Die 35-Jährige unterrichtet an der Europaschule, einer berufsbildenden Schule mit mehreren Wegen zum Abitur, Deutsch und Politik und ist zudem Fachgruppensprecherin Politik. „Dieses Engagement ist mein Beitrag zu einer demokratischen Schulkultur und zu einer inkludierenden politischen Schulbildung, in der sich möglichst viele Heranwachsende wiederfinden.“

AUTOR Stefan Layh, Redakteur Universum Verlag | FOTOS Andreas Caspari | DATUM 06.02.2024

 

Ein Raum für politische Teilhabe

Als Neziha Ciftci 2017 an die Europaschule kam, erweckte sie als erstes die Rassismus-AG, die jahrelang brachgelegen hatte, wieder zum Leben. „Nur weil wir das Siegel ‚Schule ohne Rassismus‘ tragen, heißt das ja nicht, dass hier und außerhalb alles einwandfrei läuft“, sagt die Lehrerin. „Ich will jungen Menschen mit ihren Anliegen einen Raum bieten und Selbstermächtigung sowie politische Teilhabe fördern – und zwar unter dem Dach einer Schulkultur, die von Anerkennung und Wertschätzung lebt.“

Heute sind vier Schüler und drei Schülerinnen dabei. Einer von ihnen ist Ben, er nimmt seit etwas mehr als einem Jahr an den gemeinsamen Terminen teil. „Wir sind eine sehr angenehme Gruppe, in der man gut diskutieren und sich auch wirklich einbringen kann“, sagt der 18-Jährige. „Wenn man seine Meinung äußert, die Leute überzeugt und auch aufklärt, bringt das mehr als nur sein Kreuzchen bei Wahlen zu setzen – deshalb bin ich hier.“

Neben Neziha Ciftci sind aus dem Kollegium auch die Lehrkräfte Ebru Nalbantoglu und Jörn Möller vor Ort. Die drei kümmern sich gemeinsam um die Arbeitsgruppe und teilen sich die Aufgaben rund um die regelmäßigen Termine, Veranstaltungen und Projekttage auf. Bisher zumindest. „Wir geben aber mehr und mehr Organisatorisches und Inhaltliches an die Teilnehmenden ab“, sagt Neziha Ciftci. „Sie besprechen schon jetzt viele Themen selbstständig mit der Schulleitung oder der Schülervertretung.“

Spenden und die Qual der Wahl

Beim heutigen Treffen geht es um 1.200 Euro Spendengelder, die bei mehreren von der AG organisierten Kaffee-und-Kuchen-Verkaufsterminen zusammenkamen. Der Erlös soll den Geschädigten der Erdbeben, die im Februar 2023 den Südosten der Türkei und den Nordwesten Syriens erschütterten, zugutekommen. „Die Schülerinnen und Schüler möchte genau abwägen, wohin das Geld gehen soll“, sagt Neziha Ciftci. „Deswegen haben Jörn Möller und ich eine Vorauswahl seriöser Spendeneinrichtungen getroffen und Videokonferenzen organisiert, in denen sich erstmal zwei Hilfsorganisationen vorstellen können.“ Die Wahl fiel auf die Gesellschaft für bedrohte Völker, die sich als politische Menschenrechtsorganisation für den Schutz von Minderheiten weltweit einsetzt, und Medico international, eine Hilfsorganisation mit direkten Kontakten in die türkisch-syrische Erdbebenregion. Die Arbeitsgruppe hört aufmerksam zu und stellt den Repräsentierenden der beiden Organisationen kritische Rückfragen: Erreichen die Geldspenden auch die unmittelbare Krisenregion? Wieviel geht für Verwaltungsgebühren ab? Was sind die konkreten Ziele?

Schnell ist klar, dass für die Direkthilfe, die der AG vorschwebt, eher Medico international infrage kommt. „Wir wollen das Maximum für die Menschen vor Ort erreichen“, sagt die 18-jährige Jule, dafür habe man das Geld gesammelt. „Vielleicht gibt es eine Einrichtung, die sich noch mehr für Frauen und Kinder in der Erdbebenregion einsetzt?“, überlegt ihre Sitznachbarin Angelina. Der Meinungsaustausch geht hin und her, am Ende steht ein einstimmiges Ergebnis: Die Schülerinnen und Schüler wollen nichts übers Knie brechen und stattdessen in einem weiteren Videocall zwei zusätzliche Hilfsorganisationen kennenlernen. „So bekommen wir ein noch besseres Bild von den Spendenoptionen“, sagt Simon, 19 Jahre alt. „Dann können wir hoffentlich die beste Entscheidung treffen.“ Die Zwischenzeit wollen sie nutzen, um einen weiteren Verkaufstermin an der Schule zu organisieren. Das Ziel: Die Spendensumme auf 1.500 Euro aufstocken.

Denkanstöße für alle

„Die AG ist keine geschlossene Gesellschaft“, betont Simon, „wir sind für alle offen.“ Und für alle sichtbar, beispielsweise über den Bildschirm, der im Loungebereich vor dem Zugang zur Sporthalle hängt. „Da warten die Klassen immer, bevor sie zum Unterricht in die Halle können“, sagt Ben. „Wenn sie nicht gerade hinter ihren Smartphones abtauchen, schauen sie auf unseren Bildschirm.“ Dort flimmern neben Nachrichten zu AG-Aktionen auch Informationen zu Geschehnissen, die den Teilnehmenden wichtig sind, beispielsweise die Geschehnisse rund um das Schicksal der 23-jährigen Jina Mahsa Amini, die im September 2022 in Teheran von der iranischen Sittenpolizei festgenommen, geschlagen und tödlich verletzt wurde. „Wir wollen die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen lenken und Diskussionspunkte setzen“, sagt Ben. „Wenn die Leute sich dann darüber austauschen, haben wir unser Ziel erreicht: Wir wollen hier an der Schule etwas anstoßen und Denkmuster verändern.“

Hoffnung und Mut für die Zukunft

Fragt man die Mitglieder der Rassismus-AG nach ihrem persönlichen Highlight, kommen ganz verschiedene Antworten – aber eine Veranstaltung hat alle in ihren Bann gezogen. „Ende 2022 war der Zeitzeuge und Holocaust-Überlebende Ivar Buterfas-Frankenthal an unserer Schule zu Gast“, erinnert sich Neziha Ciftci. Unter dem Motto „Verzeihen? Vielleicht ja. Vergessen? Nie!“ erzählte der 89-Jährige vor rund 160 Schülerinnen und Schülern in der Aula seine Lebensgeschichte – von der Zeit des Nationalsozialismus bis heute. „Das war wirklich bewegend“, erinnert sich Simon an die größte Aktion bisher. „Das Interesse war so groß, dass sich weitere Schulen online dazu geschaltet und das Gespräch im Stream verfolgt haben.“ Unabhängig von einzelnen Events, Gedenkstättenfahrten oder Schulaktionen schätzt Marita vor allem die Beständigkeit der Gruppe. „Gegen Rassismus und Diskriminierung, für Menschenrechte: Anstatt zuhause zu sitzen und uns über die Welt zu ärgern, setzen wir uns für die Dinge ein, die uns wichtig sind“, sagt die 19-Jährige. „Das gibt mir ein gutes Gefühl.“

Wenn Neziha Ciftci ihre Schützlinge so reden hört und handeln sieht, erfüllt sie das mit Stolz. „Auch wenn wir es in unserer Gesellschaft alltäglich mit Rassismus und Diskriminierung zu tun haben: Diese jungen Menschen schenken mir ganz viel Hoffnung und Mut.“