Lehrerin mit Schülerinnen und Schülern
Für die Arbeit mit Schülern und Schülerinnen mit Förderbedarf braucht es eine vertrauensvolle Zusammenarbeit

Klare Strukturen geben Stabilität

Tragfähige soziale Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen sind die Basis für den Unterricht an der Kurt-Biedermann-Schule in Leipzig. Die Schulleiterin schildert, wie dies gelingt.

  • Kein willkürliches pädagogisches Handeln
  • Soziales Lernen genauso wichtig wie Wissensvermittlung
  • Programme zur Stärkung sozial-emotionaler Fähigkeiten auch für Regelschulen geeignet
Autorin: Mirjam Ulrich, freie Journalistin | DATUM: 02.02.22Bild: Adobe Stock

Für die Grundschulkinder beginnt jeder Tag hinten im Klassenzimmer am Frühstückstisch. Etliche von ihnen haben eine bis anderthalb Stunden Fahrt hinter sich. Damit sie auch innerlich in der Schule ankommen, frühstücken sie erst einmal gemeinsam. Das gehört zum ritualisierten Tagesablauf. 172 Schüler und Schülerinnen der Klassenstufen 1 bis 9 besuchen das Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung der Stadt Leipzig. Weitere 1.200 Lernende werden an 111 Regelschulen vom Inklusionsteam der Kurt-Biedermann-Schule unterstützt. „Unsere Schüler und Schülerinnen haben Probleme, sich selbst angemessen zu steuern und soziale Situationen adäquat zu interpretieren“, erklärt Heike Zelnicek, die Leiterin des Förderzentrums. Das kann sich ganz unterschiedlich äußern und reicht grob gesagt von Kindern und Jugendlichen mit aggressivem, gewaltbereitem und regelverletzendem Verhalten bis hin zu ängstlichen und gehemmten jungen Menschen. „Die Letztgenannten laufen oft unauffällig an Regelschulen mit“, weiß die Schulleiterin. „Alle diese Kinder und Jugendlichen brauchen Sicherheit und Stabilität“, sagt sie. „Bevor wir Wissen vermitteln können, müssen wir erst einmal eine tragfähige Beziehung zum Schüler aufbauen.“

Regeln vermitteln Halt und Orientierung

Das erfordert klare Vorgaben und Strukturen. So wird etwa auf die Einhaltung der Hausordnung großer Wert gelegt: „Bis hierhin und nicht weiter.“ Zu Beginn des Schuljahres vereinbart jede Lehrkraft gemeinsam mit ihrer Klasse einen Verhaltenskodex. Jedes Kind hat zudem einen eigenen Verhaltensplan, zum Beispiel: Habe ich meinen Platz richtig vorbereitet? Habe ich heute mitgearbeitet und alle Aufgaben erledigt? Habe ich die anderen ausreden lassen? Nach dem Unterricht wird gemeinsam mit dem Schüler oder der Schülerin ausgewertet. Das dient laut Heike Zelnicek dazu, dass die Schüler und Schülerinnen lernen, das eigene Verhalten angemessen einzuschätzen.

Struktur geben ferner eine feste Sitzordnung, möglichst wenige Raumwechsel sowie die klare Gestaltung des Raums. „Er sollte nicht wie eine Puppenstube aussehen“, sagt die Schulleiterin, „weniger ist mehr.“

Geduld und Selbstreflexion wichtig

Für die Arbeit mit Schülern und Schülerinnen mit dem Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung braucht es eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Kollegium. Sie verlangt den 53 Lehrkräften und 16 pädagogischen Fachkräften der Kurt-Biedermann-Schule ein hohes Maß an Selbstreflexion und Geduld ab. „Man muss bereit sein, die Elbe mit einem Teelöffel auszuschöpfen“, beschreibt es die Leiterin. Besonders wichtig ist, dass die Lehrkräfte pädagogisch nicht willkürlich handeln, sondern die gleichen pädagogischen Maßstäbe anlegen und gerecht agieren. Gleiches Fehlverhalten von verschiedenen Schülern müsse gleichermaßen sanktioniert werden – aber ohne sie persönlich anzugreifen, erläutert sie. Ebenso elementar: Sie nicht über den grünen Klee zu loben, „aber ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass wir sie akzeptieren und hinter ihnen stehen. Unsere Arbeit braucht Zeit und innere Ruhe.“ Sie rechnet damit, dass aufgrund von Pandemie und Lockdown der Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung zunehmen wird.

Auch deshalb rät Heike Zelnicek – und zwar Förder- und allgemeinbildenden Schulen gleichermaßen – trotz Lernrückständen unbedingt Projekte zum sozialen Lernen wie auch kreative oder sportliche Angebote zu nutzen. Um die emotionalen und sozialen Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern zu stärken, empfiehlt sie zudem bewährte Konzepte wie „Ich schaffs!“ sowie ETEP – Entwicklungstherapie/Entwicklungspädagogik. Beide eignen sich explizit auch für Regelschulen. Das eine Programm ist lösungsorientiert, das andere stellt anstatt der Defizite die Stärken und Potenziale der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt. Ebenfalls hilfreich sei es, an der gesamten Schule Entspannungstechniken zu etablieren. Je nach Alter kommen dafür Fantasiereisen, Massagen mit dem Igelball, progressive Muskelentspannung oder Yoga-Übungen infrage. „Wir müssen versuchen, Schule als Lebensraum für Kinder und Jugendliche zu gestalten.“

 

Die Schule

1956 entstand die Kurt-Biedermann-Schule als Sondereinrichtung der Leipziger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bereits 1954 wurde die Förderschule für Erziehungshilfe und Lernbehinderung „Weg ins Leben“ gegründet. Beide Schulen sind seit 2002 Bestandteil des neu gegründeten Förderzentrums für Erziehungshilfe „Kurt Biedermann“. Neben Schulsozialarbeit gibt es ein Ganztagsangebot, verschiedene Schulprojekte und eine Berufseinstiegsbegleitung.
Mehr Informationen: www.kurt-biedermann-schule.de

Mehr zum Thema

Landesamt für Schule und Bildung Sachsen (Hrsg.): Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung an allgemeinbildenden Schulen. Unterstützungsmaterial für Lehrkräfte in den Klassenstufen 3 bis 6. Kostenfreier Download unter: publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/32822

Thomas Hegemann, Birgit Dissertori Psenner (Hrsg.): „Ich schaffs!“ in der Schule. Das lösungsfokussierte 15-Schritte-Programm für den schulischen Alltag. Heidelberg, 2. Aufl. 2020; 34,95 €.

Die Entwicklungstherapie/ Entwicklungspädagogik (ETEP) ist ein pädagogisches Programm, das nicht die Defizite, sondern die Stärken und Potenziale der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Mehr Informationen und Material: www.etep.org