Wie Schülerinnen und Schüler Selbstbehauptung trainieren können, zeigt zum Beispiel der Verein IcanDo aus Hannover.

Ich. Bin. Stark.

Immer wieder erfüllen Selbstverteidigungskurse an Schulen nicht die gewünschten Erwartungen. So können die Schülerinnen und Schüler beispielsweise durch Rollenspiele Ängste entwickeln oder sich in falscher Sicherheit wiegen. Deutlich besser und wertvoller sind Angebote, die auf die Stärkung des Selbstbewusstseins setzen.

  • Selbstverteidigungskurse für Schulen können Gefahren mit sich bringen
  • Es ist nicht einfach, seriöse von unseriösen Anbietern zu unterscheiden
  • DGUV-Informationsschrift unterstützt bei der Auswahl geeigneter Angebote
AUTORIN Susanne Layh, freie Journalistin | FOTOS privat, Adobe Stock/zinkevych | DATUM 08.11.2023

Eine fremde Person zerrt ein Kind ins Auto oder greift es anderweitig körperlich an. Diesem Albtraum aller Eltern möchten Schulen mit Angeboten zur Selbstverteidigung begegnen. Schließlich sollen sich die Schülerinnen und Schüler zu helfen wissen, falls sie in eine solche Situation geraten. Der Gedanke klingt erst mal gut und richtig – und dennoch verbergen sich hinter Selbstverteidigungskursen oft Gefahren, über die sich die Beteiligten vorab nicht im Klaren sind. Mit dem Thema beschäftigt hat sich Diplom-Sozialarbeiter Mario Jansen, der beim Gemeinde-Unfallversicherungsverband Hannover als Präventionsberater und Experte für schulische Gesundheit arbeitet. Er beobachtet immer wieder, dass Selbstverteidigungsangebote eine falsche Wirklichkeit vermitteln: „Es gibt Angebote, die Schülerinnen und Schülern Angst vor der realen Welt machen. Dadurch werden sie gehemmt, ihre Welt zu erkunden, und trauen sich nicht mehr, zum Beispiel durch den Park zu laufen. Gleichzeitig wird ihnen vermittelt, dass sie sich durch das rasche Üben von Techniken gegen körperlich überlegene Angreifer wehren könnten. Dabei braucht es dafür aber jahrelanges Training.“

So bitte nicht

Weiterhin kommt es Jansen zufolge vor, dass Anbieter von Selbstverteidigungskursen durch die Vermittlung stereotyper Rollenbilder, fremdenfeindlicher Ideologien oder gesundheitsgefährdender Techniken wie Beißen, Treten und Schlagen negativ auffallen. Laut eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz (KMK) ist es sogar ausdrücklich untersagt, in Schulen Praktiken zu lehren, „die darauf abzielen, den Gegner durch gezielte Körpertreffer zu besiegen und gegebenenfalls sogar gesundheitlich zu schädigen“. Darauf weist auch die DGUV-Publikation Fachbereich Aktuell „Kampfsportarten in der Schule hin“ (siehe Infokasten).

Mario Jansen ist Präventionsberater und Experte für schulische Gesundheit beim Gemeinde-Unfallversicherungsverband Hannover.

„Da im Prinzip jeder ohne eine entsprechende Zertifizierung Selbstverteidigungskurse anbieten kann, ist es schwierig, die seriösen von den unseriösen Akteuren zu unterscheiden“, so Jansen. „Vor allem, da einige Anbieter gar nicht den Ausdruck ‚Selbstverteidigung‘ verwenden, sondern beispielsweise ‚Selbstbehauptung‘ oder ‚Gewaltprävention‘.“ Doch auch diese Begriffe seien ja nicht geschützt. Die Schulen sollten daher genau hinschauen, um nicht ein mutmaßlich gewaltfreies Angebot zu buchen, das sich am Ende dann doch als Negativbeispiel entpuppt. Auszeichnungen wie das bundesweite WIRKT-Siegel, das vom unabhängigen Analyse- und Beratungshaus PHINEO verliehen wird, können hier Orientierung geben, ebenso natürlich der Erfahrungsaustausch mit anderen Schulen.

WIRKT-Siegel steht für Seriosität

Ein Anbieter, der für seine Schulprojekte ebenjenes Siegel erhalten hat, ist der Verein IcanDo aus Hannover. Dieser kooperiert seit nunmehr sieben Jahren mit der ebenfalls dort beheimateten Grundschule Vinnhorst – erst im Rahmen mehrerer kleiner Projekte, seit 2017 als dauerhafte Kooperation. Das Ziel: „Die Kinder erhalten in durch Regeln geschützten Erfahrungs- und Lernräumen vielfältige Möglichkeiten zur Beteiligung und die Chance, die eigenen Bedürfnisse auszudrücken. Indem wir die Achtsamkeit im Umgang fördern, wächst das Vertrauen. Damit fördern wir die Beziehungen der Kinder untereinander und stärken letztendlich die Bindung zum Lebens- und Lernort Schule“, erklärt Diplom-Sozialpädagoge Olaf Zajonc, Gründer und erster Vorsitzender von IcanDo. Bevor es zu einer Zusammenarbeit zwischen dem Verein und einer Schule kommt, gibt es ein gegenseitiges Kennenlernen. „Wenn wir gemeinsam die Ziele des Projekts definiert haben, starten wir mit mindestens fünf 90-minütigen Kursen pro Klasse“, so Zajonc. Diese finden im Rahmen des regulären Unterrichts und nicht etwa als Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag statt. Neben den ausgebildeten Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen des Vereins nehmen auch die Lehrkräfte sowie die Schulsozialarbeiterinnen an den Stunden teil. Denn die, so Olaf Zajonc, „kennen die Gruppendynamik ihrer Klasse sehr gut und wissen, wo es noch etwas zu tun gibt“. Und – fast noch wichtiger – die Lehrerinnen und Lehrer erhalten durch ihre beobachtende Teilnahme am Projekt sowie begleitende Schulungen die Möglichkeit, Know-how zu erwerben, das sie in ihrem Unterrichtsalltag einsetzen können.

Vertrauen in eigene Fähigkeiten

Olaf Zajonc erster Vorsitzender des IcanDo e. V. in Hannover.

In den Projekteinheiten selbst werden verschiedene Spiele und Bewegungsübungen mit sozialpädagogischen Methoden verknüpft. Bei den Kindern der Grundschule Vinnhorst ist nach Aussage von Schulleiterin Annette Groß besonders das „Pinguinspiel“ beliebt. Dabei müssen alle „Mitglieder einer Pinguinfamilie“ von einem Ende der Turnhalle zum „rettenden Ufer“ am anderen Ende gelangen. Dies erreichen sie mithilfe von Turnreifen und indem sie gemeinsam eine Strategie entwickeln und zusammenarbeiten. Wichtigste Regel: „Alle Pinguine der Familie müssen heil und sicher wieder zurückkehren!“ Diese Spiele machen den Kindern Spaß – und verraten den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von IcanDo gleichzeitig einiges über die Rollenverteilung innerhalb der Klasse. „Wir schauen immer zuerst auf die Stärken der Kinder, nicht auf die Defizite“, so Zajonc. Schließlich gehe es darum, jeder und jedem das Gefühl zu vermitteln, ein wichtiges Mitglied der Gemeinschaft zu sein, und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken.

Stopp heißt Stopp

Trainieren sollen die Schülerinnen und Schüler auch, ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu vertrauen und diese ihrem Umfeld mitzuteilen. Heißt konkret: Was möchte ich? Was möchte ich nicht? Wann ist bei mir eine Grenze erreicht und wie kann ich diese dem Gegenüber verdeutlichen? Deshalb lautet eine wichtige Regel, die die Kinder im Projekt erproben können: „Bei Stopp halte ich alles an.“ Und zwar nicht nur beim Rennen, Raufen und Toben, sondern auch in verbalen Auseinandersetzungen und allen anderen Konfliktsituationen. Daneben gibt es noch weitere Regeln im IcanDo-Projekt, die an der Grundschule Vinnhorst seit vielen Jahren zu einem besseren Miteinander beitragen. Aufgrund der positiven Erfahrungen wurden sie zu Schulregeln gemacht, an die sich neben den Schülerinnen und Schülern auch die Lehrkräfte und alle anderen am Schulbetrieb beteiligten Personen halten. Wenngleich der bewegungsbasierte sozialpädagogische Ansatz von IcanDo zwar ebenfalls der Prävention von Ausgrenzung und Gewalt an Schulen dient, unterscheidet er sich in vielerlei Hinsicht von Selbstverteidigungskursen, die vor allem darauf abzielen, dass sich Kinder gegen den körperlichen Angriff einer fremden erwachsenen Person wehren können.

SPIELERISCH REGELN EINÜBEN

Annette Groß ist Schulleiterin der Grundschule Vinnhorst in Hannover.

Schulleiterin Annette Groß steht solchen Angeboten sehr kritisch gegenüber. „Selbstverteidigungskurse sind reaktiv, Selbstbehauptungskurse hingegen präventiv. Aus unserer Sicht ist Letzteres langfristig eindeutig der bessere Weg.“ In der Grundschule Vinnhorst haben sich mittlerweile nach sieben Jahren der Zusammenarbeit mit IcanDo die spielerisch eingeübten Regeln bei allen verfestigt. „Natürlich gibt es auch bei uns Konflikte“, sagt Schulleiterin Annette Groß, „insgesamt passiert aber weniger, da die Kinder gelernt haben, ihrem Gefühl zu vertrauen und sich auch in andere hineinzuversetzen.“ Ihrer Ansicht nach sollte jede Grundschule die Möglichkeit bekommen, mit einer sozialpädagogischen Fachkraft zusammenzuarbeiten. „Was unsere Kinder hier an Selbstreflexion und Sozialkompetenz mitnehmen und auch in ihre Familien hineintragen, leistet einen unglaublichen Beitrag zur Gewaltprävention, von dem sie hoffentlich ihr Leben lang profitieren können.“

WIE FINDE ICH EINEN GUTEN ANBIETER?

Oft ist es für Schulen gar nicht so leicht herauszufinden, ob ein Anbieter von Selbstbehauptungs- beziehungsweise Selbstverteidigungskursen seriös arbeitet. Aus diesem Grund hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) die Informationsschrift „Selbstverteidigungsangebote in Schulen“ veröffentlicht. Darin werden verschiedene Qualitätskriterien aufgelistet, die ein Anbieter unbedingt erfüllen sollte – ebenso wie eine Aufzählung von No-Gos, beispielsweise den Einsatz gesundheitsgefährdender Techniken.

Fachbereich AKTUELL „Selbstverteidigungsangebote in Schulen“
www.dguv.de, Webcode: p022308

Fachbereich AKTUELL „Kampfsportarten in der Schule“
www.dguv.de, Webcode: p021650

LEITFADEN

Entspricht ein Selbstverteidigungsangebot den landesspezifischen Regelungen? Sind die handelnden Personen dafür geeignet? Entsteht keine Gefahr für die Teilnehmenden und Dritte? All das müssen Schulleitungen prüfen und sicherstellen. Bei der Auswahl von geeigneten Angeboten zur Selbstverteidigung hilft unsere Checkliste:
www.pluspunkt.dguv.de/leitfaden_selbstverteidigungskurse