„Alle Kinder sind willkommen“
Seit 50 Jahren wird Inklusion großgeschrieben: Die Fläming-Grundschule in Berlin war die erste Schule in Deutschland, die Kinder mit Lernschwierigkeiten in den Regelbetrieb aufgenommen hat. Das Erfolgsrezept: Differenzierung – und ein gutes soziales Miteinander.
- Seit 50 Jahren bietet die Fläming-Grundschule Inklusion im Regelbetrieb
- Vielfältige Fördermöglichkeiten für verschiedenste Behinderungen
- Soziales Miteinander und Differenzierung als Erfolgsfaktoren
Wo lebt der Fuchs? Wovon ernähren sich Eichhörnchen? Und wofür sind Käfer wichtig? In der dritten Klasse stehen Tiere im Wald auf dem Stundenplan. Neben der Tafel prangt ein Plakat, darauf alle wichtigen Wörter in einfachen Symbolen. „Uns ist ganz wichtig, dass alle Kinder am Unterricht teilhaben können“, betont der pädagogische Unterrichtshelfer Paul Dammer von der Fläming-Grundschule in Berlin, „auch wenn sie nicht lesen oder sprechen können.“ In der Grundschule in Schöneberg sitzen Kinder mit und ohne Behinderung ganz selbstverständlich nebeneinander. Egal, ob sie schon bis 100 rechnen oder nur von null bis drei zählen, ob sie Multiplizieren üben oder leichte Plusaufgaben lösen.
Am Anfang war … ein Zufall
Die Fläming-Grundschule war vor 50 Jahren die allererste Schule in Deutschland überhaupt, die Kinder mit Lernschwierigkeiten in den Regelbetrieb aufnahm. „Das ist einem historischen Zufall geschuldet“, berichtet Sonderpädagogin Tania Hertling, zuständig für die sonderpädagogische Koordination. „Das war nicht von langer Hand geplant.“ Es gab kein fertiges pädagogisches Konzept, dafür eine große Offenheit. Der Anstoß kam von Eltern: Ihre Kinder – mit und ohne Behinderung – waren um die Ecke gemeinsam in einem Kinderhaus betreut worden. Und wollten auch in der Schule zusammenbleiben. Im Rahmen eines Modellversuchs kamen die Kinder 1975 gemeinsam in die erste Klasse.
Seither hat die Fläming-Grundschule vielfältige Fördermöglichkeiten für verschiedenste Behinderungen erprobt. Zu den Schülerinnen und Schülern gehören Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsproblemen bis hin zu Lernschwierigkeiten und schweren Mehrfachbehinderungen. Wichtigste Regel: „Alle Kinder sind bei uns grundsätzlich willkommen“, betont Tania Hertling. Auf insgesamt 100 Schülerinnen und Schüler kommen pro Jahrgang jeweils zwölf Kinder mit Lernschwierigkeiten oder körperlichen Behinderungen. An der Grundschule hat es sich sehr bewährt, dass die Stunden für sonderpädagogischen Förderbedarf für die einzelnen Schülerinnen und Schüler in pädagogische Unterrichtshilfen umgewandelt werden.
Heilpädagogen wie Paul Dammer arbeiten gemeinsam mit einer Lehrkraft in der Klasse. „Wir sind in erster Linie dazu da, im Unterricht besser differenzieren zu können“, berichtet der pädagogische Unterrichtshelfer. Die Aufgaben sind nicht immer klar zu trennen, die Verantwortlichkeiten verschwimmen. Der große Vorteil: Die Unterrichtshilfen gehören fest zum Kollegium dazu, sind bei allen Konferenzen und Festen dabei. Wo sonst oft Schulhelferinnen und Schulhelfer von freien Trägern für einzelne Kinder im Einsatz sind, manchmal nur für ein paar Stunden pro Woche, und häufiger wechseln, sind bei der Fläming-Grundschule langjährige Fachkräfte angestellt.„Wir sind ein Team“, stellt Tania Hertling klar. „Dadurch sind engmaschige Absprachen möglich.“ Ein großes Pfund der Schule sei, dass Fachkräfte mit ganz unterschiedlichen Professionen eng zusammenarbeiten.
Soziales Miteinander und Differenzierung
„Unser Konzept sieht vor, dass sich die Kinder möglichst gegenseitig inkludieren“, berichtet die sonderpädagogische Koordinatorin. Voraussetzung dafür sei, dass alle 25 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse sicher gebunden seien. „Jedes Kind muss sich so abgeholt fühlen, dass es auch mal wartet oder jemand anderem hilft.“ Auf das soziale Miteinander wird sehr viel Wert gelegt. Mit Erfolg. „Es ist so schön zu sehen, wie die Kinder miteinander umgehen“, berichtet Paul Dammer. „Sie unterstützen einander.“ Am Anfang der Woche werden Kinder ausgewählt, die zum Beispiel einen Jungen im Rollstuhl in der Pause unterstützen. Sofort melden sich viele Kinder. „Das ist ganz normal hier.“ Der pädagogische Unterrichtshelfer ist absolut davon überzeugt, dass von diesem Klima alle Kinder profitieren.
Im Unterricht arbeiten alle zum gleichen Thema. „Differenzierung ist das A und O“, betont Tania Hertling. Das gelte übrigens generell für Grundschulen, überall sei die Schülerschaft sehr heterogen, so tun sich zum Beispiel auch Kinder mit Fluchterfahrung am Anfang mit der Sprache schwer. Die Fläming-Grundschule setzt auf sogenannte Metacom-Symbole: Für Tausende Wörter gibt es leicht verständliche Bilder, der Hase steht für schnell, die Schnecke für langsam. Auch für Aussagen und Tätigkeiten gibt es spezielle Zeichen. Diese Symbole sind ein wichtiges Kommunikationsmittel für Kinder, die nicht sprechen, lesen oder schreiben können.
Kleingruppenarbeit ist die Ausnahme
Selten nimmt Paul Dammer ein paar Kinder aus der Klasse, um in einer Kleingruppe mit ihnen zu arbeiten. Zum Beispiel hätten Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten wenig davon, wenn Sachtexte auf Englisch in der sechsten Klasse gelesen werden. „Wir wollen ja nicht, dass ihnen der Spaß am Lernen vergeht“, betont der pädagogische Unterrichtshelfer. Zudem steht für sie einmal pro Woche lebenspraktischer Unterricht auf dem Stundenplan. Da gehen sie gemeinsam einkaufen oder kochen etwas in der Küche. Auch gibt es spezielle Schwimmangebote für Kinder mit Lernschwierigkeiten und körperlicher Behinderung. Zudem kommen eine Ergo- und eine Physiotherapeutin stundenweise, um die Förderung in den Schulalltag zu integrieren.
Allerdings legt die Schule immer viel Wert darauf, die Schülerinnen und Schüler nicht strikt zu trennen. „Das sind immer auch Angebote für alle Kinder“, stellt Tania Hertling klar. Zum Beispiel können auch Kinder zum Kochen mitkommen, die in den Hauptfächern besonders weit sind. Oder bewusst auch Kinder, die sich in der Klasse schwertun, die Schwierigkeiten mit dem Lernen haben oder mit ihrem Verhalten immer wieder anecken. „Wichtig ist, dass sie mal raus aus dem Alltagstrott der Schule kommen“, sagt Paul Dammer. „Sie müssen auch mal glänzen.“ Wenn sie die anderen Kinder beim Plätzchenbacken oder Salzteigmachen unterstützen, gehen sie mit dem positiven Gefühl raus: „Ich konnte richtig gut helfen!“
Selbstfürsorge der Lehrkräfte
Inklusion ist aber auch fordernd. Deswegen ist es für alle Kolleginnen und Kollegen an der Fläming-Grundschule wichtig, sich gut abgrenzen zu können. „Gerade weil die Schülerinnen und Schüler so viel brauchen, ist Selbstfürsorge unerlässlich“, sagt Tania Hertling. „Man muss wirklich unheimlich gut für sich sorgen, damit Inklusion gelingt.“ Dazu gehöre, den Stift auch mal liegen zu lassen und pünktlich Feierabend zu machen. Wichtig sei auch, mit den Kindern viel zu reden – und die Behinderung zum Thema zu machen. „Wir müssen ihnen Raum geben für ihre Sorgen, Gefühle und Gedanken“, betont die Sonderpädagogin. „Aber die Gespräche steuern wir Erwachsenen.“
In der Schule gelingt somit oft ganz selbstverständlich, woran es anderswo in der Realität noch hapert. In einer Klasse ist zum Beispiel ein Junge mit Lernschwierigkeiten, der im Rollstuhl sitzt. „Alle mögen ihn“, sagt die Lehrerin, „weil er extrem freundlich ist.“ Selbstverständlich wird er auch zu Kindergeburtstagen eingeladen. „Weil er so ist, wie er ist.“
Tania Hertling ist als Sonderpädagogin an der Fläming-Grundschule in Berlin-Friedenau zuständig für die sonderpädagogische Koordination.
Paul Dammer ist Heilpädagoge und arbeitet an der Fläming-Grundschule als pädagogischer Unterrichtshelfer immer an der Seite einer Lehrkraft in verschiedenen Klassen.
DIE SCHULE
Die Fläming-Grundschule in Berlin-Friedenau ist eine Pioniereinrichtung für inklusiven Unterricht. Seit 1975 führt sie Integrationsklassen, in denen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Von den etwa 580 Schülerinnen und Schülern, die in 24 altershomogenen Klassen unterrichtet werden, haben rund zwölf Prozent einen sonderpädagogischen Förderbedarf.
• https://flaeming-grundschule.de