Tabea Müller ist gut ausgestattet um bei gesundheitlichen Beschwerden zu helfen

Zum Wohle aller

Ob bei Verletzungen, chronischen Krankheiten, kleineren Beschwerden oder Präventionsmaßnahmen: Lehrkräfte, Schulleitungen und Eltern werden durch Schulgesundheitsfachkräfte wie Tabea Müller spürbar entlastet. Ein Ortsbesuch an ihrem schulischen Arbeitsplatz im brandenburgischen Neuruppin.

  • Durchweg positive Bilanz des Modellprojekts in Brandenburg
  • Alle profitieren: Schülerschaft, Kollegium, Eltern, Kommunen und Wirtschaft
  • Vielerorts wird das Engagement fortgeführt, andere Bundesländer springen auf
Autorin Annika Kiehn | DATUM: 19.08.22Bilder: Kathrin Harms

Kaum hat sie gesagt: „Heute ist es ungewöhnlich ruhig“, klopft es auch schon an ihrer Tür. Ein junges Mädchen steht mit Tränen in den Augen und zaghaftem Schniefen vor dem Krankenzimmer von Schulgesundheitsfachkraft Tabea Müller: Kopfschmerzen, klagt die Erstklässlerin. Tabea Müller, 43 Jahre alt, beugt sich zu ihr hinunter und sagt mit sanfter Stimme: „Beschreibe mir mal bitte, wo genau der Schmerz sitzt.“ Das Mädchen zeigt auf den Hinterkopf und schluchzt. „Hast du dich gestoßen? Oder zu wenig getrunken?“ Die Erstklässlerin schüttelt den Kopf, die ganze Trinkflasche sei schon leer. Tabea Müller guckt prüfend um den Kopf herum, dann scheint sie das Problem gefunden zu haben: „Ich glaube, dein Zopfgummi sitzt zu straff“, sagt sie und zieht ihn vorsichtig aus dem Haar. Das Mädchen setzt sich, währenddessen holt sie ein Kühlpad, steckt es in einen Stoffumschlag und drückt es sanft in den Nacken ihrer kleinen Patientin. Das Schluchzen lässt nach, die Aufmerksamkeit von Tabea Müller lässt sie den Kummer schnell vergessen. Eine Viertelstunde später sitzt das Mädchen wieder im Klassenzimmer.

KLEINE URSACHEN, GROSSE FOLGEN

Es sind Szenen wie diese, die den Schulalltag prägen: Plötzlich und unerwartet klagen Kinder über Kopf- oder Bauchschmerzen. Der erste Impuls in vielen Schulen: Mama oder Papa anrufen, um sie zu bitten, das Kind abzuholen. Minimales Unwohlsein kann schnell eine maximale Welle an Organisation lostreten: Eltern werden aus der Arbeit herausgerissen, müssen sich oftmals für den restlichen Tag krankmelden, das Kind wiederum verpasst wertvollen Unterrichtsstoff. Das bedeutet einen Ausfall der Arbeitskraft und für den Arbeitgeber einen wirtschaftlichen Nachteil. „Dabei reichen oft ein paar tröstende Worte, ein bisschen Aufmerksamkeit und schon kann der Schüler oder die Schülerin weiterlernen“, weiß Tabea Müller aus Erfahrung. Seit Anfang 2017 ist sie als Schulgesundheitsfachkraft im Rahmen eines Modellprojekts des AWO Bezirksverbands Potsdam e. V. an der Wilhelm-Gentz- Grundschule in Neuruppin tätig. Eine Inklusionsschule mit rund 185 Schülerinnen und Schülern, die dort von der ersten bis zur sechsten Klasse unterrichtet werden.

BRANDENBURGER MODELLPROJEKT

Die gelernte Krankenschwester ist eine von 18 Frauen, die im Zuge des Modellprojekts „Schulgesundheitsfachkräfte in öffentlichen Schulen im Land Brandenburg“ zur Pflegefachkraft im schulischen Kontext ausgebildet wurden. Das Projekt startete am 1. August 2016 und lief – nach zweimaliger Verlängerung – Ende 2021 aus. Rund 9.000 Schülerinnen und Schüler sowie 27 Schulen haben in diesem Zeitraum von dem Modellprojekt profitiert. Damit die Fachkräfte auf den Schulalltag gut vorbereitet sind, umfasst die begleitende Ausbildung 720 Stunden Theorie – mit Lerneinheiten zu Pädagogik, Dokumentation, Entwicklung von Kindern und Psychologie. Das Curriculum ist vom AWO Bezirksverband Potsdam e. V. in Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten unterschiedlichster Fachbereiche erarbeitet worden. Der Praxisteil umfasst dann noch mal 930 Stunden.

Für die neue Aufgabe habe sie ihre unbefristete Stelle als Krankenschwester aufgegeben, erzählt Tabea Müller und wirkt sehr zufrieden mit dieser Entscheidung. Ob Erste-Hilfe-Maßnahmen oder die Betreuung chronisch kranker Kinder, individuelle Früherkennung bei gesundheitlichen Problemen oder unterrichtsbegleitende Aufklärungsarbeit: „Mein Alltag ist facettenreich, weitestgehend selbstbestimmt und unvorhersehbar“, sagt sie fröhlich. „Mal gebe ich einem Kind eine neue Schutzmaske, wenn es seine vergessen hat, mal versorge ich eine kleine Schürfwunde, dann wieder halte ich selbstständig eine Stunde über wichtige Hygienemaßnahmen.“ In ihre neue Rolle habe sie dank der Aufgeschlossenheit der Schülerschaft schnell hineingefunden. Anfangs habe sie ihre 40-Stunden-Stelle auf zwei Schulen aufteilen müssen. Das habe nicht so gut geklappt: „Ich muss verlässlich erreichbar sein, sonst verlieren die Kinder schnell das Vertrauen. Jetzt wissen alle Schüler und Schülerinnen genau, wann ich da bin, und kommen bei Bedarf zu mir.“

KOMMUNEN MACHEN WEITER

Immerhin 13 der 18 Fachkräfte konnten im Anschluss an das Projekt ab Januar 2022 übernommen werden. „In den meisten Fällen haben die Kommunen sich dazu entschieden, die Finanzierung eigenmächtig abzudecken“, erläutert Gudrun Braksch vom AWO Bezirksverband Potsdam e. V. Das ist der Wohlfahrtsverband, der bereits 2009 das Projekt initiierte und auch weiterhin Anstellungsträger ist. Als Projektleiterin hat Gudrun Braksch die Einführung der Schulgesundheitsfachkraft an ausgewählten Schulen in Brandenburg von Anfang an maßgeblich mitgestaltet. „Wir sind so dankbar, dass die Kommunen es nun weiterführen und es nicht zu einem Bruch kommt. Was einmal weg ist, ist weg“, weiß sie aus Erfahrung. Inzwischen bietet der AWO Bezirksverband Potsdam e. V. sein Erfahrungswissen bundesweit für Kooperationen mit Schulen und Gemeinden an, die das Thema  Schulgesundheitsfachkraft für sich erschließen möchten. Gudrun Braksch sieht neben dem zwischenmenschlichen auch den wirtschaftlich nachhaltigen Effekt: „Die Tätigkeit einer Schulgesundheitsfachkraft hat enorme Auswirkungen auf die Bildungschancen der Schüler.“ Weil sie bei harmloseren Beschwerden gleich wieder in den Unterricht zurückkönnten, müssten sie zu Hause keinen Stoff mühsam nachholen – und fielen nicht zurück. Auch psychische Probleme könnten dank der Aufmerksamkeit der Fachkraft viel besser aufgefangen werden. „Außerdem wirkt sich die Präventionsarbeit, etwa hinsichtlich Drogen- und Alkoholmissbrauch, positiv aus und beeinflusst die Schüler langfristig in ihrem Eifer, ihre Gesundheit
zu schützen“, so Braksch.

ANDERE BUNDESLÄNDER ZIEHEN NACH

Auch Hessen, Bremen, Schleswig-Holstein, Hamburg und jüngst Rheinland-Pfalz haben in verschiedensten Organisationsformen die Rolle der Schulgesundheitsfachkraft in den öffentlichen Schulalltag integriert. Die Erfahrungen aus Brandenburg dienen als wertvolle Grundlage. Das Modellprojekt dort kam mit der Unterstützung mehrerer Partner zustande: dem Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg, dem Ministerium für Jugend und Sport des Landes Brandenburg, der AOK Nordost, der Unfallkasse Brandenburg und dem Projektträger AWO Bezirksverband Potsdam e. V. Das Projekt wurde von Studien renommierter Institutionen begleitet und die Ergebnisse sind in der DGUV Information 202-116 „Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften“ zusammengefasst. Aus der darin aufgeführten SPLASH-Studie, Teil 2, die von der Berliner Charité ausschließlich in Brandenburg durchgeführt wurde, geht hervor, dass sich 96 Prozent der Lehrkräfte durch die Arbeit der Schulgesundheitsfachkraft entlastet fühlen, das gilt außerdem für 83 Prozent der befragten Eltern. Außerdem bestätigen 88 Prozent der Lehrkräfte, „dass ihr persönlicher wöchentlicher Zeitaufwand für die Übernahme von fachfremden, gesundheitsbezogenen Tätigkeiten seit Beginn des Modellprojektes abgenommen hat (…).“ „Wir in Hessen sind glücklich, dass wir unsere Schulgesundheitsfachkräfte dauerhaft sichern und sogar um zehn zusätzliche Stellen erweitern konnten“, sagt Ulrich Striegel vom Hessischen Kultusministerium, der die oben genannte DGUV Information verfasste. „Mit einem zusätzlichen behutsamen Ausbau könnten wir die konsequente Förderung von Schülerinnen und Schülern nachhaltig weiter verbessern.“

KRANKENZIMMER MIT WOHLFÜHLEFFEKT

In dem eigens dafür geschaffenen Krankenzimmer wirkt Tabea Müller so in ihrem Element wie eine Gärtnerin im Gewächshaus. Hell ist ihr kleiner Raum. Tabea Müllers Schreibtisch ist am Fenster, auf dem Waschbecken stehen diverse Tuben Desinfektionsmittel, daneben an der Wand die Krankenliege. Auf einem kleinen Tisch liegen Kinderbücher. Ein Raumluftbefeuchter versprüht einen angenehmen Duft. „Die Kinder lieben das, besonders Lavendel“, sagt sie. Ein großer Medizinschrank hält Erste-Hilfe-Material bereit. So kann sie kleinere Wunden oder Prellungen vor Ort behandeln, bevor die Kinder in eine Arztpraxis geschickt werden. „Schürfwunden nach der Hofpause sind der Klassiker“, so Müller. Außerdem liegt hier frische Unterwäsche in Plastikboxen für den Notfall bereit. „Manchmal schaffen es die Erstklässler nicht rechtzeitig auf die Toilette, dann können wir mit  Wechselkleidung aushelfen.“ Tabea Müller kümmert sich auch um chronische Krankheiten wie Diabetes. Eine Viertklässlerin hat ihr zweites Blutzuckermessgerät im Krankenzimmer. So braucht sie es nicht zwischen zu Hause und Schule hin und her zutragen – und hat keine Sorge, es zu vergessen. „Zurzeit ist ihr Wert sehr schwankend, das müssen wir im Auge behalten“, sagt die Pflegefachkraft und verweist damit auf einen weiteren Vorzug ihrer Präsenz: Anzeichen von gesundheitlichen Veränderungen bei Schülern und Schülerinnen rechtzeitig erkennen und den Eltern mitteilen. Sämtliches Verbrauchsmaterial aus dem Krankenzimmer wird über das Budget der Schule finanziert.

„Aufgrund ihrer neutralen Stellung vertrauen sich die Kinder Frau Müller wesentlich schneller an als ihren Lehrkräften“, sagt Schulleiterin Kathrin Tokar. Dazu trägt sicher auch bei, dass Tabea Müller der Schweigepflicht unterliegt. „Sie entlastet uns alle sehr und ich bin überaus dankbar, dass wir sie an unserer Schule haben.“ Seither könne sie sich wesentlich besser auf ihre Kernaufgaben als Schulleiterin konzentrieren. „Frau Müller hat alles im Blick, was das gesundheitliche Wohl unserer Schülerinnen und Schüler betrifft. So haben wir beispielsweise immer vorbildlich gepackte Satteltaschen mit Erste-Hilfe-Material, bevor wir zu unseren Ausflügen starten“, sagt die Schulleiterin und schmunzelt.

ALLE KÄMPFTEN FÜR DIE STELLE

Als sich abzeichnete, dass das Land Brandenburg das Modellprojekt nach 2021 nicht weiter finanzieren würde,  hätten sich das gesamte Kollegium und die Schülerschaft mit Plakaten und Bildern vor dem Landtag in Potsdam für Tabea Müllers Stelle eingesetzt. Ein selbst gemaltes Bild hängt jetzt noch in ihrem Krankenzimmer, darunter der Satz: „Frau Müller ist die coolste Krankenschwester der Welt.“ Sie lächelt. „Das hat mich echt gerührt und mir gezeigt, wie sehr ich hier geschätzt werde“, schwärmt sie und beginnt, sich für ihren nächsten Einsatz vorzubereiten: eine Lehrstunde zum Thema Handhygiene. Als Gesundheitsexpertin stärkt sie nämlich mit Präventionsarbeit die Schülergesundheit. Mit einem dicken Ordner unterm Arm und einem kleinen Koffer in der Hand wechselt sie hinüber in den Unterrichtsraum der 5a. Lehrerin Kerstin Birkholz begrüßt sie freudig. Sie war anfangs Patin von Tabea Müller, hat ihr geholfen, in die Routine des Schulalltags hineinzufinden. Ausgemalte Bilder von blaugelben Friedenstauben kleben an den Fensterscheiben. „Der Krieg in der Ukraine ist natürlich kein Tabuthema und wurde auch schon zu einem Fall für Frau Müller. Einige der Kinder waren nach einem Gespräch emotional so aufgelöst, dass ich sie zu ihr geschickt habe. Sie konnte helfen und ich mit dem Unterricht fortfahren“, erzählt Kerstin Birkholz dankbar.

Denn auch wenn sich die Anforderungen an die Lehrkräfte deutlich verändert hätten und das Schenken von Trost, Ermutigung und Aufmerksamkeit zum normalen Aufgabenbereich gehöre, habe sich vor allem mit der Einführung der Ganztagsschule noch einmal vieles aus dem familiären Umfeld in den Schulalltag verlagert – zum Beispiel ein steigendes Bedürfnis nach Fürsorge und persönlicher Zuwendung. „In solchen Momenten bin ich sehr froh, dass Tabea Müller unsere Arbeit unterstützt und uns Lehrkräfte dadurch entlastet“, so die Lehrerin. Die Schulgesundheitsfachkraft, so scheint es, ist das fehlende Puzzleteil, das neben den Schulsozialpädagogen und Schulsozialpädagoginnen sowie Lernbetreuern und Lernbetreuerinnen das multiprofessionelle Team in der Schule ergänzt. Auf die Frage, wer von ihnen schon einmal die Hilfe von Frau Müller beansprucht habe, heben 12 von 13 Schülerinnen und Schüler der Klasse 5a ihren Arm. „Diese Frau hat ein unglaublich positives und motivierendes Temperament, von dem wir alle profitieren“, betont Kerstin Birkholz. „Ist ja nicht so, dass wir Lehrerinnen nicht auch ab und an mal eine Aufmunterung brauchen.“

Tabea Müller spricht im Interview über ihre Tätigkeit als Schulgesundheitsfachkraft.