Der Leseclub

Eine Wohlfühloase in der Schule

AUTORIN Jessika Bohrer    FOTOS Raphael Lichius    DATUM 16.03.2023

Im Leseclub der Fritz-Schäffer-Grund- und Mittelschule Ostermünchen erinnern nur noch die grüne Tafel und das Waschbecken neben der Tür an ein ‚typisches‘ Klassenzimmer. In der Mitte des einladend gemütlichen Raumes liegt ein großer Teppich, die Fensterfront ist mit selbst genähten Vorhängen dekoriert. An zwei Wänden stehen hohe Bücherregale, davor bieten neben Tischen und Bänken auch farbige Hocker und Sitzsäcke viele Sitzmöglichkeiten. Dieses Klassenzimmer wurde im Schuljahr 2015/16 für den Leseclub eingerichtet. Hier warten die Schulleiterin Margaret Careddu-Bayr und Michaela Pelz, die den Leseclub koordiniert und am heutigen Tag leitet, auf die teilnehmenden Kinder. Die Gruppen bestehen üblicherweise aus acht bis zwölf Schülerinnen und Schülern.

„Die Anzahl von Jungen und Mädchen ist meistens ausgewogen“, merkt Michaela Pelz an. Heute ist das ausnahmsweise nicht der Fall: Zum freiwilligen Leseclub-Treffen kommen fünf Kinder, ein Junge und vier Mädchen.

Die fünf Kinder des heutigen Leseclubs stehen in einer Reihe und schauen fast alle Richtung Kamera.
Schulter an Schulter stehen von links Schulleiterin Margeret Careddu-Bayr und Michaela Pelz vor einem Bücherregal.

Michaela Pelz (rechts) ist Autorin und Journalistin sowie freiberufliche Referentin im Offenen Ganztag der Fritz-Schäffer-Grund- und Mittelschule Ostermünchen in Tuntenhausen. Sie ist unter anderem für die Koordination der Aus- und Weiterbildung der ehrenamtlichen Leseclubleitungen zuständig, die vor allem über den lokalen Bündnispartner des Projekts, die Katholische Frauengemeinschaft Ostermünchen, gewonnen werden. Zusammen mit Schulleiterin Margaret Careddu-Bayr (links) hat sie das Konzept für den Schwerpunkt „Leseförderung“ entwickelt und eingeführt.

Die Gründung des Leseclubs hängt unmittelbar mit dem bundesweiten Förderprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Kooperation mit der Stiftung Lesen zusammen.

In ihrer Bewerbung machte die Schule deutlich, dass den Kindern der Gemeinde keine Bibliothek vor Ort zur Verfügung steht. Das Förderprogramm setzt genau hier an: Es ermöglicht ein betreutes Gruppenangebot zur freizeitorientierten Leseförderung und stattet die Leseclubs dafür vollumfänglich aus. Das betrifft in erster Linie eine große Auswahl an Kinderbüchern und Comics, die jährlich um kleinere Pakete mit Neuerscheinungen ergänzt werden, aber auch verschiedene Spiele, ein Tablet und das notwendige Mobiliar können gestellt werden.

Mit dem Leseclub konnte seit der Gründung allen Schülerinnen und Schülern der Stufen 1 bis 4 sowie 5 und 6 Literatur und Kultur spielerisch zugänglich gemacht und Freude am Lesen vermittelt werden. Dabei spielt es keine Rolle, wo die Kinder herkommen oder wie gut sie lesen können.

Informationen zum Bildungsprogramm der Stiftung Lesen

Die Stiftung Lesen setzt sich seit 1988 für die Förderung von Lese- und Medienkompetenz ein. Als Partner des Förderprogramms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung werden auch aktuell bundesweit „Leseclubs“ eingerichtet. Mehr unter: www.leseclubs.de

Mehr zur mittlerweile dritten Phase des Förderprogramms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung

Die Bücher im Blick

Gespannt betritt die Gruppe den Raum und setzt sich auf die im Halbkreis angeordneten Hocker mit Blick zu den Bücherregalen. Drei Übungsaufgaben, bei denen improvisiert, vorgelesen und ein Thema gemeinsam erarbeitet wird, hat die Leiterin Michaela Pelz für heute geplant. „Die Leseclubleiterinnen und -leiter verschaffen den Kindern ganzjährig einen niedrigschwelligen Zugang zur Sprache, wo Bücher, Spiele und Bastelmaterial zum Einsatz kommen. In vergangenen Leseclubs haben wir in größeren Projekten auch schon ein Buch geschrieben, ein Drehbuch erarbeitet und daraus einen Film produziert“, erzählt Michaela Pelz. „Typische Treffen gibt es im Leseclub nicht. Es hängt ganz davon ab, welche thematischen Schwerpunkte die jeweilige Leitung setzt.“

Kinder sitzen auf bunten Sitzsäcken und lesen in unterschiedlichen Büchern.
Anne steht vor einem großen Bücherregal und zählt Reihen und Bücher ab.

Bei der ersten Aufgabe auf dem heutigen Tagesplan sollen die Kinder ein zufälliges Buch aus dem Regal nehmen und nach 30 Sekunden Vorbereitungszeit den anderen erzählen, wovon es handelt und warum man es unbedingt lesen sollte. Bei der Frage nach Freiwilligen gehen fünf Hände in die Höhe. Die neunjährige Anne soll im dritten Regal von rechts im vierten Fach von unten das siebte Buch herausziehen. Die Schülerin sieht sich den Einband und die Rückseite des Buchumschlags aufmerksam an und sagt anschließend: „Ich finde, dass das Buch ganz schön ist, weil es der Fantasie entspringt. Da kann man sich selbst Geschichten ausdenken und sich auch verschiedene Sachen zum Anziehen überlegen.“

Anne sieht sich das Cover des Buches, welches vor ihr auf dem Tisch liegt, aufmerksam an.
Anne sitzt vor dem Tisch, der vor dem Bücherregal steht. Sie hält das Buchcover sichtbar und schaut es selbst an.
Anne hält das Buch für andere sichtbar und erzählt.

„Die Kinder wissen, dass im Leseclub das Thema ‚Bewertungen‘ keine Rolle spielt. Außerdem sind die Gruppen klein, da geniert man sich weniger“, sagt Michaela Pelz. „Manchmal machen wir Übungen mit Texten in Fremdsprachen, die für alle unbekannt sind. So verlieren die Schülerinnen und Schüler auch die Angst vorm lauten Vorlesen.“

Und so kann eine solche Aufgabe aussehen: Klicken oder tippen Sie auf den Playbutton im Audioplayer, um sich die Ansprache zur Übungsaufgabe von Frau Pelz anzuhören. Oder klicken/ tippen Sie auf den Pfeil, um sich das Gesprochene durchzulesen.

Frau Pelz steht neben einem schwarzen Klavier und zeigt den Kindern ein Kalenderblatt.
Lene liest aus dem Kalender vor.

Schulleiterin Margaret Careddu-Bayr ergänzt: „Wir wollen mit dem Leseclub ein unbeschwertes Leseerlebnis ermöglichen, bei dem die Kinder Literatur mit ganz positiven Gefühlen erleben können. Dabei können sie in eine Vielzahl an Titeln und unterschiedlichste Genres eintauchen, sich im freien Spiel ausprobieren und einfach Freude daran haben. Dadurch, dass der Leseclub frei von schulischer Bewertung ist, gehen die Kinder angstfreier mit dem Bereich „Lesen und Schreiben“ um. So finden sie einen ganz anderen Raum für Kreativität und trauen sich mit Sprache zu spielen.“

Frau Pelz: „Wer von euch kann Portugiesisch?“ Die Kinder: „Keiner!“ Frau Pelz: „Sehr gut! Das heißt, du hast dich zuerst gemeldet, du wirst jetzt dieses portugiesische Gedicht vorlesen. Das hat den Vorteil, wir können/ ich kann es auch nicht, das heißt, niemand von uns weiß, was du das liest. Niemand von uns weiß, ob du alle Wörter richtig aussprichst. Und es spielt überhaupt keine Rolle.“

Sachbücher und Superhelden

Zum Abschluss des heutigen Leseclub-Treffens schlägt Michaela Pelz ein Sachbuch über abstrakte Kunst auf, legt es mittig auf die bunte Tischdecke. Die Kinder beugen sich über das offene Buch. „Was können wir nicht sehen?“, fragt die Leseclubleiterin. „Die Luft“, sagt Magdalene, „man kann Geister nicht sehen!“, setzt Max fort. „Und Glück, weil das ist ja in einem drin“, argumentiert Greta.

Frau Pelz stützt sich auf dem Tisch ab, auf dem ein offenes Sachbuch liegt. Die Kinder sitzen auf Bänken um den Tisch.
Michaela Pelz hält offenes Buch in den Händen.

„Sachbücher mit kurzen Texten kommen besonders gut an. Sie haben den Vorteil, dass sich mehrere Kinder damit beschäftigen und sich dazu austauschen können“, sagt Michaela Pelz. „Aber auch Witzebücher und Superhelden-Geschichten funktionieren im Leseclub sehr gut.“ Durch gemeinsame Projekte eigneten sich die Schülerinnen und Schüler Offenheit für Literatur, Sprache und Kultur an. Das fördere ihr Sozialverhalten in der Gruppe, das Selbstvertrauen steige. „Es motiviert, wenn man sieht, welche Entwicklungen die Schülerinnen und Schüler durchmachen und es geht einem das Herz auf, wenn sie fragen, wann sie wiederkommen dürfen“, resümiert Michaela Pelz, „Mit dem Leseclub haben wir einen Ort geschaffen, der nur mit positiven Emotionen besetzt ist. Er hat sich zu einer Wohlfühloase für die Schülerinnen und Schüler entwickelt, einem Lebensort, an dem man Spaß haben kann“.

Nach den bisherigen guten Erfahrungen wollen Leseclubkoordinatorin Michaela Pelz und Schulleiterin Margaret Careddu-Bayr das Angebot künftig weiter ausbauen. Bücher sollen ausgeliehen werden können, ein generationenübergreifendes Angebot für die ganze Familie wird geplant. Im Gespräch ist außerdem die Ausbildung von schulinternen „Lesetutoren“ beziehungsweise „Lesepartnerschaften“. Dabei sollen Tandems zwischen Schülerinnen und Schülern verschiedener Altersgruppen gebildet werden, die sich gegenseitig vorlesen – und gemeinsam in der Wohlfühloase abtauchen und entspannen.

Die Schulleiterin hält ein offenes Buch in den Händen.

„Natürlich ist das mit einigem zusätzlichen Aufwand verbunden, aber wenn wir dann immer wieder sehen, mit welcher Begeisterung und Herzblut die Kinder dabei sind, ist das für uns der Antrieb weiter zu machen“, sagt Frau Careddu-Bayr abschließend.