Ohne Klassenraum und feste Pause
Ob am Stehtisch, auf der Couch oder in einem der abgetrennten Bereiche mit Glasfront: Im kaufmännischen Bereich gibt es verschiedene Möglichkeiten, zusammen zu lernen.

Ohne Klassenraum und feste Pause

In der Berufsbildenden Schule Westerburg lernen die Schülerinnen und Schüler eines Berufszweigs gemeinsam in offenen Lernebenen. Nicht der Gong gibt vor, wann Zeit für eine Pause ist, sondern der individuelle Lernrhythmus. Ein klarer Vorteil dieses Konzepts: Die jungen Leute arbeiten konzentrierter, sind weniger abgelenkt und bringen sich in den Lernteams ein.

  • Berufsbildende Schule arbeitet mit offenen Lernebenen
  • Schülerinnen und Schüler lernen sehr eigenverantwortlich
  • Lob, Anerkennung und praxisnahe Projekte halten die Motivation hoch
AUTORIN Angela Krüger, Redakteurin Universum Verlag | Fotos Dominik Buschardt | DATUM: 28.04.2023

Ein riesiges offenes Klassenzimmer, die einzelnen Lerngruppen sind nur durch Glaswände voneinander getrennt: In der Lernebene der Metallberufe im ersten Stock der BBS Westerburg sitzen 60 Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen. Dirk Kröller, Berufsschullehrer für Metalltechnik und Teamsprecher, schaut mit zehn von ihnen ein Video und widmet sich der Auftragsanalyse. „Um die Konzentration hochzuhalten, variieren wir mit den Lernmethoden. Ein Video zwischendurch kann da hilfreich sein.“

Diese Flexibilität der gemeinsamen Arbeit wird durch die offenen Lernebenen erreicht, die von Lehrerteams – bestehend aus vier bis sechs Lehrkräften – geführt werden. Die insgesamt knapp 2.500 Schülerinnen und Schüler der BBS haben dadurch mehr Möglichkeiten, Einfluss auf den Lernprozess zu nehmen. Sie arbeiten eigenverantwortlicher – quasi nebenbei wird das konzentrierte Lernen gefördert. Zudem wird die Pause nicht vorgegeben. Stattdessen können die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden, wann es Zeit für eine Unterbrechung ist. Das ist spätestens dann der Fall, wenn sie sich nicht mehr konzentrieren können. „Wir übergeben die Verantwortung für den Lernprozess den Lernenden“, sagt Schulleiter Michael Niess. In der BBS Westerburg wird daher nicht von Unterricht gesprochen, sondern von gemeinsamem Lernen. „Lernen ist individuell und funktioniert bei jedem Einzelnen anders. Wir unterbreiten Angebote, an die jeder andocken kann.“ Die Lehrerteams können individueller auf kleine Gruppen eingehen, weil sich die fünf Lehrkräfte im Team so einteilen können, wie es gerade sinnvoll erscheint. So ist es Berufsschullehrer Kröller möglich, das Video mit seiner Gruppe zu schauen und anschließend zu besprechen, während andere Schülerinnen und Schüler gerade am Notebook arbeiten.

Regeln gemeinsam festlegen

Auch in anderen Berufsgruppen funktioniert das im Schulalltag gut. Jonas Smelszus, Auszubildender zum Kaufmann für Büromanagement im dritten Lehrjahr, sagt: „Ich finde die offenen Lernebenen sehr angenehm. Wir können in Ruhe arbeiten und zwischen den Räumen wechseln.“ Gerade sitzt er mit seinem Mitschüler Simon auf einer Couch, während sie Arbeitsaufträge auf ihrem Notebook bearbeiten. Dass um sie herum 70 weitere Schüler und Schülerinnen aus dem kaufmännischen Bereich sitzen, hört man kaum. Durch die offenen Lernebenen üben die Jugendlichen Rücksichtnahme und übernehmen Verantwortung für sich und andere. „Gestern haben wir eine Klassenarbeit geschrieben. Der Geräuschpegel war dann doch zu hoch, aber nachdem unsere Lehrerin den anderen Bescheid gesagt hat, war es kein Problem mehr“, sagt Maximilian Filz, ebenfalls angehender Kaufmann für Büromanagement. „Ich finde es gut, dass wir vieles selbst erarbeiten. Bei Problemen können wir immer nachfragen.“

Ohne Klassenraum und feste Pause

Auch dass sie gemeinsam die Regeln festlegen, trägt zur angenehmen Arbeitsatmosphäre bei, in der konzentriert gearbeitet werden kann und Störungen anscheinend keine Chance haben. „Wir dürfen zum Beispiel essen und trinken, während wir lernen“, sagt Maximilian. Ein Handyverbot gibt es ebenfalls nicht. „Sobald wir die Handynutzung im Unterricht freigegeben hatten, war es weniger Thema als vorher“, findet Schulleiter Niess. „Zwischendurch wird mal auf eine Whatsapp geantwortet, danach weitergearbeitet.“ Überhaupt ließen sich die Schülerinnen und Schüler nicht durch die Reize in den offenen Lernebenen ablenken. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die offenen Bereiche sich sogar positiv auf die Konzentration auswirken.“

Unterrichtsinhalte sind flexibel

Dennoch ist das offene Lernkonzept für alle erst einmal eine Umstellung. So ging es auch Sigrid Baumann, Berufsschullehrerin im kaufmännischen Bereich. „Ich habe meine Ausbildung in einer anderen Umgebung gemacht und musste mich umgewöhnen“, erzählt sie. Jetzt liegen auch für sie die Vorteile auf der Hand: „Wir sind ja meist mit fünf Lehrkräften in der Ebene. Wenn gerade Englisch besser passt als Mathe, dann sind wir flexibel genug, das umzusetzen.“ Außerdem ist der Austausch im Kollegium viel einfacher. Durch die offenen Bereiche sehen sich die Lehrkräfte ständig. „Wir können uns an einem der Stehtische in der Mitte treffen, uns kurz besprechen und wir haben trotzdem einen Blick auf die Schüler und Schülerinnen.“

Doch was passiert, wenn ein Schüler oder eine Schülerin mit dem selbstorganisierten Lernen nicht zurechtkommt? „Es gibt auch bei uns Lerngruppen, die enger begleitet werden müssen. Da sind die Lernenden einfach noch nicht so weit, um mit ihrer Eigenverantwortung gut umgehen zu können – beispielsweise in den ersten Wochen des Schuljahres im Berufsvorbereitungsjahr“, sagt Schulleiter Niess. „Wenn die Lehrkraft hier merkt, es wird unruhig, die Konzentration geht verloren, dann wird mit den Methoden, Fächern oder Lernfeldern variiert.“ Sollte die Luft ganz raus sein, wird eine Pause gemacht. Konzen-tration sei aber auch tagesformabhängig. „Wenn es an einem Tag gar nicht geht, können beispielsweise auch private Probleme dahinterstecken. Da muss man dann auch mal genauer hinschauen.“

Schülerprojekte feiern

Um die Motivation beim Lernen hochzuhalten, helfe oft Lob und Anerkennung. „Die Lehrerteams feiern mit den Schülerinnen und Schülern auch kleine Erfolge“, so Niess. Hierbei werden durchaus auch mal Preise an die Jugendlichen vergeben. Außerdem arbeiten die Berufsvorbereitungsklassen in den Werkstätten an echten Projekten. „Wir produzieren nichts für die Mülltonne – das motiviert natürlich.“ Dann plant die Berufsschulklasse das Projekt und die Schülerinnen und Schüler des Berufsvorbereitungsjahrs setzen es in den Werkstätten um. Das Schulgebäude steht beispielsweise voll mit Schränken, die in diesem Zusammenhang angefertigt wurden. „Das sind alles Schülerprojekte und beim Tag der offenen Tür sind die jungen Leute natürlich stolz, das ihren Eltern zu zeigen“, so Schulleiter Niess.

Natürlich geht es auch bei der BBS Westerburg nicht ganz ohne lehrerzentrierte und frontale Phasen. Um die Konzentration jedoch zu fördern, werden die Inputphasen insgesamt kurz gehalten und an die Bedürfnisse der Gruppe angepasst. Im Anschluss bekommt die Lerngruppe wieder Arbeitsaufträge, bei denen sie ihr Tempo selbst bestimmen kann. „Die meisten Schüler und Schülerinnen entdecken nach kurzer Zeit die Vorteile des selbstorganisierten Lernens“, sagt Niess. Für den Großteil von ihnen sei es angenehmer und stressfreier.

Offene Lernebene 2.0

Nach 15 Jahren denkt Michael Niess über mögliche Verbesserungen nach: „Die Frage ist: Wie könnte die offene Lernebene 2.0 aussehen?“ Rückzugsräume und schallisolierte Kabinen sind angedacht, beispielsweise um Musik zu hören. Außerdem soll es Sport- und Bewegungsangebote geben, Basketballkörbe zum Auspowern, Aktivierungspfade und Entspannungspfade.

Mit diesen neuen Angeboten hofft er, das bestehende Konzept zu verfeinern, um die Kompetenzen der Absolventen und Absolventinnen weiter zu verbessern. „Uns geht es um die Kompetenzen, die nicht in der Prüfung gemessen werden“, erklärt der Schulleiter. Problemlösungskompetenz, Teamfähigkeit, Kreativität, Präsentieren von erarbeiteten Inhalten, der Umgang mit modernen Medien und strukturiertes Arbeiten – in all diesen Bereichen schneiden die Schülerinnen und Schüler der BBS Westerburg sehr gut ab. Die Betriebe loben vor allem die hohe Eigenverantwortung der Absolventen und Absolventinnen – und die Fähigkeit, konzentriert und strukturiert arbeiten zu können.

Ohne Klassenraum und feste Pause: Michael Niess

Michael Niess, Schulleiter der BBS Westerburg

Zur Schule

In der Berufsbildende Schule (BBS) Westerburg unterrichten 150 Lehrkräfte knapp 2.500 Schülerinnen und Schüler in zahlreichen Berufszweigen: vom Hauswirtschaftsbereich, der Erzieherausbildung und Altenpflege über den gewerblich-technischen Bereich bis hin zu kaufmännischen Berufen und dem beruflichen Gymnasium: www.bbs-westerburg.de

„Gute Rahmenbedingungen fürs Lernen“

In einem Video-Interview spricht Schulleiter Michael Niess über selbstbestimmtes Lernen in der BBS Westerburg: www.pluspunkt.dguv.de/selbstbestimmt_lernen

Tipps für konzentriertes Lernen in anderen Schulformen und Altersklassen finden Sie ebenfalls online: www.pluspunkt.dguv.de/konzentriert_lernen