Hinsehen und helfen
Studien belegen: Immer mehr Kinder und Jugendliche zeigen Anzeichen von Essstörungen. Wichtig ist, ihnen so früh wie möglich Hilfe und Unterstützung anzubieten. Schulen kommt dabei eine wichtige Rolle zu.
- Essstörungen seit Coronapandemie immer häufiger
- Betroffene fühlen sich häufig un- oder missverstanden
- Gesprächsangebote aufrechterhalten, auch wenn sie zunächst abgelehnt werden
Kürzlich kam ein Mädchen aus der sechsten Klasse in die Sprechstunde von Marina Müller, Schulpsychologin am Labenwolf-Gymnasium in Nürnberg. Die Schülerin hatte selbst bemerkt, dass sie Probleme mit dem Essen hat, immer dünner wurde und sich unwohl in ihrem Körper fühlte. Sie wollte gern etwas daran ändern, wusste aber nicht wie. Im ersten Schritt hätten sie gemeinsam das Gespräch mit der Mutter gesucht, berichtet Marina Müller. „Auch ihr war bereits aufgefallen, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt.“ Doch sie war ratlos, was sie tun sollte. Die Psychologin stellte den Kontakt zu einer Beratungsstelle her, jetzt macht das Mädchen eine Therapie. „Vor allem geht es darum, klarzumachen: Es gibt Unterstützung, wir helfen euch!“
Eine Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigt: Jedes dritte Mädchen (33,6 Prozent) im Alter zwischen 14 und 17 Jahren weist Symptome einer Essstörung auf – und mehr als jeder zehnte Junge (12 Prozent), Tendenz seit der Coronapandemie stark steigend. Ob Magersucht, auch Anorexie genannt, Adipositas, Bulimie oder das sogenannte Binge-Eating mit unkontrollierten Essanfällen: Die Symptome unterscheiden sich je nach Krankheitsbild, doch allen gemeinsam sind „Probleme mit dem Essverhalten, dauerhafte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, dauerhafte Sorgen um Gewicht und Essen sowie sozialer Rückzug“, erklärt Malte Bödeker, Referatsleiter unter anderem für Kinder- und Jugendgesundheit bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln.
Keinen Druck aufbauen
Am Gymnasium in Nürnberg ist die Psychologin Marina Müller die erste Ansprechperson, wenn jemand bei einem Kind eine Essstörung vermutet. Einmal fiel einem Sportlehrer auf, dass ein Junge extrem dünn geworden war, und er stellte den Kontakt zu Marina Müller her. Aber meistens kommen die Jugendlichen von selbst in ihre Sprechstunde, zu zweit oder dritt, zusammen mit Freundinnen und Freunden, manchmal aber auch allein. Wichtig sei erst einmal: „da sein!“ Es gelte, keinen Druck oder Zwang auszuüben.
Der BZgA-Experte betont, dass oft viel Geduld gefordert sei. Häufig fühlten sich Betroffene miss- und unverstanden. Aus Furcht vor Ablehnung und Stigmatisierung verheimlichten sie ihre Probleme. Deshalb rät Malte Bödeker nahestehenden Personen: „Halten Sie Ihr Gesprächsangebot aufrecht, auch wenn es zunächst abgelehnt wird.“ Er fügt hinzu, dass Essstörungen mitunter sehr belastend für das Umfeld seien.
Schnelle Hilfe anbieten
Die Kinderpsychotherapeutin Ingar Zielinski-Gussen behandelt Jugendliche mit Essstörungen in der Uniklinik Aachen. Ihr Appell an alle Lehrkräfte: „Bei der kleinsten Sorge aktiv werden. Je früher, desto besser.“ Anorexie lässt sich in der Regel leicht erkennen, weil die Kinder immer dünner werden. Schwieriger ist es bei anderen Essstörungen, beispielsweise Bulimie. Da gelte es, auf Warnsignale zu achten, betont die Psychologin. Rennt ein Kind beispielsweise nach dem Essen immer auf die Toilette? „Sowie ein Verdacht aufkommt, sollten die Lehrkräfte sofort das Gespräch suchen.“ Zunächst mit den Schülerinnen und Schülern. Aber so schnell wie möglich auch mit den Erziehungsberechtigten. Sie müssten damit rechnen, dass die Kinder beteuerten, es sei alles gut, und sie sollten bitte nicht mit den Eltern sprechen. „Im Zweifel müssen sich die Lehrkräfte darüber hinwegsetzen“, betont Ingar Zielinski-Gussen. Sie sollten den Kindern offen sagen, dass sie sich große Sorgen machen und deshalb Kontakt mit den Eltern aufnehmen würden.
Ganz wichtig ist der Psychologin zu betonen: „Bei Essstörungen handelt es sich um eine psychische Krankheit, die jedes Kind treffen kann.“ Neben sozialen und psychischen Faktoren spielten auch genetische Veranlagungen eine Rolle. Die Therapeutin kritisiert, dass immer noch viele Vorurteile verbreitet seien: „Oft denken die Leute insgeheim: Da stimmt doch zu Hause was nicht, wenn ein Mädchen oder ein Junge plötzlich eine Essstörung bekommt.“ Diese Meinung sei fatal. „Auf den Eltern lastet ein riesengroßer Schuldberg.“ Damit einher gehe häufig Scham, mit der Folge, das Problem lieber allein in den Griff bekommen zu wollen. „Das genau ist falsch“, erklärt Ingar Zielinski-Gussen. „Bei Diabetes würde ja auch niemand sagen: Das kriegen wir allein hin, ohne Insulin oder Zuckermessen.“
Lehrkräfte können nicht alles lösen
Ihrer Meinung nach kommt Lehrkräften eine enorm wichtige Aufgabe zu: „Die Schulen können viel präventiv leisten und für Aufklärung sorgen“, sagt die Psychologin. Sie könnten dazu beitragen, dass sich das Bild in den Köpfen ändert. Damit die Krankheit das Stigma loswerde, dass jemand etwas falsch gemacht habe oder nur zu schwach sei. Stattdessen muss die Botschaft lauten: „Du bist krank, du musst zum Arzt – und zwar am besten frühzeitig.“ Sobald es allerdings um Intervention geht, sollten Schulen das Problem unbedingt outsourcen. Diese Last sollten Lehrkräfte nicht auf ihre Schultern nehmen, betont Ingar Zielinski-Gussen. Dafür seien sie nicht ausgebildet und das sei auch nicht ihre Aufgabe. Davor warnt auch Malte Bödeker von der BZgA: „Betroffene zu diagnostizieren und zu therapieren, ist nicht die Aufgabe von Lehrkräften.“ Stattdessen sollten sie bei Auffälligkeiten und Veränderungen genau hinsehen, sich im Kollegium austauschen und wenn nötig, Expertenrat einholen.
Sich genug Zeit fürs Gesundwerden nehmen
Nach Asthma seien Essstörungen die häufigste chronische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen, sagt Ingar Zielinski-Gussen von der Uniklinik in Aachen. Die gute Nachricht: „Wenn frühzeitig gehandelt wird, ist die Prognose extrem gut.“ Aber die Psychologin macht auch klar, dass vor allem Magersucht die psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate ist. Etwa zehn Prozent der Betroffenen sterben an den Folgen oder nehmen sich das Leben. „In der Klinik liegt unser Fokus bei diesen Patientinnen und Patienten deshalb darauf: Erst richtig gesund werden, dann wieder in die Schule.“ An Anorexie erkrankten meist Mädchen, die sehr zielstrebig und leistungsstark seien. In der Regel wollten sie so schnell wie möglich zurück in die Schule und wieder Klausuren mitschreiben. „Aber wir warnen davor, sich zu früh wieder dem schulischen Stress auszusetzen.“
Essstörungen Teil des Präventionskonzeptes
Am Labenwolf-Gymnasium in Nürnberg stand nach der Coronapandemie fest, dass Essstörungen – neben Angststörungen und Depressionen – unbedingt ins Präventionskonzept der Schule gehören. Für alle siebten Klassen steht deshalb ein Workshop zu dem Thema auf dem Stundenplan. Zunächst holten sie –
finanziert von der AOK – den Verein Dick & Dünn e. V., Fachberatung bei Essstörungen in Nürnberg, ins Boot. Inzwischen haben zwei Lehrkräfte eine eintägige Fortbildung besucht und führen das Angebot fort. Zudem besuchen die siebten Klassen jedes Schuljahr die Ausstellung „Klang meines Körpers“, die in Nürnberg im Gesundheitsamt gezeigt wird, bei Bedarf aber auch von Schulen angefordert werden kann. Darin kommen Mädchen und Jungen selbst zu Wort, berichten von der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, der Angst zu versagen, aber auch davon, was sie stark macht.
Ziel der Schule ist, über Essstörungen aufzuklären – und klarzumachen: „Es gibt Hilfe“, so Schulpsychologin Marina Müller. Die Schülerinnen und Schüler sollen wissen, wo sie niedrigschwellig Unterstützung finden, egal, ob es um sie selbst oder um einen Freund oder eine Freundin geht. „In den meisten Fällen handelt es sich zum Glück noch nicht um chronische Essstörungen, sondern um erste Anzeichen. Da lässt sich noch gut gegensteuern.“
Marina Müller ist Schulpsychologin am Labenwolf-Gymnasium in Nürnberg. Sie ist die erste Ansprechperson, wenn bei einer Schülerin oder einem Schüler eine Essstörung vermutet wird oder wenn diese selbst Hilfe suchen.
Die Kinderpsychotherapeutin Ingar Zielinski-Gussen behandelt Jugendliche mit Essstörungen in der Uniklinik Aachen.
Malte Bödeker ist Referatsleiter für Kinder- und Jugendgesundheit bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln.
FORTBILDUNGEN FÜR LEHRKRÄFTE
Informationen für Lehrkräfte, pädagogische und psychosoziale Fachkräfte hat das Bundesgesundheitsministerium im Flyer „Essstörungen – Was kann ich tun?“ zusammengefasst.
WEITERE INFORMATIONEN
Wo finde ich eine Beratungsstelle in meiner Nähe?
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet eine Übersicht zu telefonischen, persönlichen und Online-Beratungsangeboten.
Tipps für den Unterricht
Die BZgA empfiehlt, die psychische Gesundheit in Schulen zu fördern und zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beizutragen. Dazu stellt sie mehrere Bildungsmedien bereit.
Weiterführende Informationen
Die BZgA bietet online unter anderem eine DVD mit drei Erklärfilmen zu Essstörungen in weiterführenden Schulen an.